Freitag, 20. August 2010

Praha

http://www.youtube.com/watch?v=z8OLb1DK9HY

Except that the seaside's not the seaside.

Dienstag, 17. August 2010

Der Narziss in mir

Zum besseren Verständnis dieses Eintrags vorab eine Information: Ich möchte das aus dem Österreichischen stammende, wirklich schöne Fremdwort "fesch"1) stärker in unseren Sprachgebrauch integrieren und werde es von nun an zwecks eines abwechslungsreicheren Umgangs mit den deutschen Adjektiven immer wieder einfließen lassen. (Zu Eurer Beruhigung sei ebenfalls vorab gesagt, dass ich nicht vorhabe, die Vokabel trotz des ebendies suggerierenden Post-Titels zur Eigenbeschreibung zu verwenden.)

Die ganze Zeit mache ich mir Gedanken darüber, was und wer in dieser Stadt mir nach meiner Rückkehr nach Deutschland wirklich fehlen wird. Dabei ist mir heute aufgefallen, dass ich vor all den offensichtlich zu vermissenden Dingen und Personen noch gar nicht über jene ganz flüchtigen Bekannten nachgedacht habe, denen ich Tag für Tag begegne und zu deren Tagesablauf ich genauso gehöre wie sie zu meinem. Wahrscheinlich werde ich ihnen genauso fehlen wie sie mir.

Da ist der vietnamesische Verkäufer vom Potraviny an meiner Ecke, dem ich immer dann einen Besuch abstatte, wenn mir eine Kleinigkeit fehlt. Fast täglich also, und das seit vier Monaten. Seit etwa zwei Monaten hat unsere Beziehung ein insofern fortgeschritteneres Stadium erreicht, als dass er mir immer winkt, wenn ich den Zebrastreifen gegenüber seines Ladens überquere - selbst wenn ich dann direkt weiter nach Hause laufe.

Dann ist da der netteste Kellner der Welt, der im "Velryba" in der Prager Neustadt bedient und dessen ganze Erscheinung mich immer an das Neustadter Haardt Rock Café erinnert (auch wenn man den Qualitätsvergleich zwischen ihm und den dortigen Bedienungen* besser unterlässt). Insgeheim hoffe ich, dass er auch in Zukunft immer an mich denkt, wenn jemand eine halbvolle Kofola auf dem Tisch stehen lässt, wie es dort sämtliche meiner Besucher taten, die das Gebräu angesichts des niedrigen Preises und seines Kultstatus zwar unbedingt probieren wollten, es aber in keinem Fall austranken. Was den namenlosen Kellner zum außerdem geduldigsten Menschen Prags macht, ist der Umstand, dass er mir bei meinen Bestellungen bisher kein einziges Mal auf Englisch geantwortet hat (obwohl ich gehört habe, dass er es sehr gut spricht) und mir immer alle Zeit der Welt gibt, bis ich den Geldbetrag, den ich inklusive Trinkgeld für mein Essen zahlen möchte, korrekt ausgesprochen habe. Auch unsere Beziehung hat ein neues Level erreicht, seit er mich beim Zählen und Rechnen immer breit angrinst und hin und wieder meine Aussprache korrigiert (was meistens dann der Fall ist, wenn die Ziffer Vier in den Beträgen auftaucht). Ich werde ihn sehr vermissen.

Nicht zuletzt ist da eben auch dieser - aufgepasst - fesche junge Mann, dessen Arbeits- und mein "Schulweg" sich allmorgendlich kreuzen. Dass wir uns mittlerweile grüßen, wenn wir aneinander vorbeilaufen, erinnert mich immer an die Fahrstuhlsituationen aus amerikanischen Sitcoms. Davon abgesehen sind wir einander schon so bekannt, dass ich seine Montagskrawatte erkenne.

Die tiefste Beziehung habe ich jedoch zu einem Mann im Café Louvre. Sein Antlitz hängt im Bilderrahmen ganz hinten links auf der Wandseite des großen Saals und ist Motiv einer der lustigsten Fotografien, die ich kenne. Schon in meiner ersten Woche in Prag habe ich mir vorgenommen, so gut Tschechisch zu lernen, dass ich einen der Angestellten fragen kann, wer der Mann auf dem Bild ist und ob die Fotografie irgendwie zu erwerben ist. Es ist an der Zeit, diesen Vorsatz umzusetzen.
* außer Eva

Literaturangaben

1)http://de.wiktionary.org/wiki/fesch

Freitag, 13. August 2010

Abschied

Alleinsein ist eine gefährliche Sache; man gewöhnt sich so schnell daran. Weil ich zwar nicht gern einsam bin, es aber mag, mit meinen Gedanken allein zu sein, bin ich heute Abend nur mit mir selbst und meinem i-Pod durch Vinohrady spaziert. Zu Yann Tiersen und Tracy Chapman philosophierte ich also vor mich hin* und erlebte dabei einen dieser seltenen Augenblicke vollendeter geistiger Klarheit. Leider sind diese Augenblicke zu prägnant, um sie anschließend wiedergeben zu können. Sie sind jedenfalls voller Erkenntnisse, zum Beispiel derjenigen, dass es gar nicht so gut ist, sich selbst gegenüber allzu ehrlich zu sein. Denn auch dieser Zustand ist einer, an den man sich gewöhnt, und die Emotionalität, die daraus erwächst, ist alles andere als produktiv, auch wenn man sich das - vor allem im künstlerischen Sinne - gern einbildet.

Jetzt lasse ich mir von Sebastian Madsen vorsingen, dass das Leben nunmal grausam und schön ist und fühle mich, als hätte ich für den Liedtext Modell gestanden. Das passiert jetzt zum zweiten Mal. Vielleicht sollte ich mich der Indie-Szene mal als Muse zur Verfügung stellen. (Wahrscheinlich habt ihr einen größeren Nutzen, wenn ihr euch das Lied anhört anstatt meinen Eintrag zu lesen.) Mein Problem besteht eben gerade im Festhalten des Augenblicks. Das kann man eigentlich nicht, wie Sebastian Madsen schon so scharfsinnig erkannt hat, vor allem nicht mit einer Kamera. Mein ferneres Problem ist zudem, dass ich nicht nur den einen einzigen Augenblick einfangen will. Weil mein Abschied aus Prag so rasant näher rückt, bin ich regelrecht darauf erpicht, mir meinen Aufenthalt zu inszenieren.

Seit ich vor zwei Wochen den Havlíčkovy sady entdeckt habe, versuche ich krampfhaft, diesen Park zum Ende meiner Prag-Zeit noch zu meinem Lieblingsort zu machen, indem ich so oft es geht hingehe. Es ist wunderschön dort und ich kann mich nicht sattsehen an den Weinbergen, der Villa Gröbe und dem beruhigenden Geäst über den Wiesen und Bänken. Die Wahrheit ist natürlich, dass das Geäst mich keineswegs beruhigt. Ich sitze da, lese, schaue immer wieder hoch, um zu denken: "Es ist so schön, präg dir den Anblick ein!", weil ich weiß, dass man die Male, die ich in nächster Zeit hier verbringen werde, abzählen kann. Wenn ich zurück in Deutschland also auf die Frage, welcher mein Lieblingsplatz in Prag gewesen ist, mit dem Havlíčkovy sady antworte, werde ich in Wirklichkeit denken: "gewesen wäre! Wär ich doch nur länger dageblieben!"


Ich frage mich hier immer öfter, wie ich es in Urlauben eigentlich schaffe, mich meiner Umgebung einfach so hinzugeben, in dem Wissen, dass ich sie bald wieder verlassen muss. Vielleicht ist meine Einstellung bei kurzen Aufenthalten einfach eine grundsätzlich hingebende, wie wenn man im Flugzeug sitzt und sich denkt: "Entspann dich, du kannst jetzt eh nichts ändern." In Prag ist mir das leider in den vergangenen Wochen nicht mehr gelungen.


In letzter Zeit bin ich - was angesichts meines Noch-Wohnorts nun wirklich kein Zufall ist - immer wieder über eines der wahrscheinlich bekanntesten Zitate Franz Kafkas gestolpert. "Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen." Mir kommt es im Moment so vor, als wäre ich an diesem Punkt gerade angekommen und eine erzwungene Rückkehr einfach unnatürlich.

Neuerdings sind
meine Einträge viel zu Zitate-lastig. Trotzdem möchte ich dasjenige veröffentlichen, das der liebe T. meiner Situation entsprechend so treffend ausgewählt hat und das ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, als nach wie vor von "Irrungen, Wirrungen" geschädigte Fontane-Hasserin im Original nicht mal kenne.

"[…] und dann kommt Zerstreuung - ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile."

*Merkt euch das für eine potentielle Umbenennung meiner fastallabendlichen Wegstrecke in den Prager Philosophenweg in, sagen wir, 80 Jahren.

Mittwoch, 4. August 2010

Glück

http://www.youtube.com/watch?v=PMK76UPYmEc

Nach einem besonders harten Arbeitstag ist mein Praktikum gestern offiziell zu Ende gegangen. Richtig bewusst geworden ist mir das allerdings erst heute, als ich aus Gewohnheit schier zu meinem zu meinem "alten" Arbeitsplatz zurückgekehrt wäre - und erst auf halber Strecke eine Kehrtwende zurück nach Hause machte.


Drei Monate klingen als tatsächlich vergangene Zeit unfassbar kurz, wenn ich sie der verspürten Intensität meiner Erfahrungen hier gegenüberstelle. Am Ende nahezu jedes meiner nunmehr zahlreichen Praktika habe ich gedacht, dass die Zeit in dem jeweiligen Betrieb zu kurz war, um den fachlichen und menschlichen Mehrwert zu erreichen, den ich mir bei der Bewerbung gewünscht hatte. Bei der Prager Zeitung war das anders. An keinem Schreibtisch (inklusive meines eigenen) habe ich bisher mit so viel Freude gesessen; dazugelernt habe ich wohl auch so viel wie es selbst durch einen doppelt so langen Aufenthalt wohl nicht zu übertreffen gewesen wäre. Und doch fühle ich mich wie herausgerissen aus einem Moment des Angekommenseins. Man sollte niemals mit etwas aufhören (müssen), wenn es gerade am meisten Spaß macht. Denn Erfüllung ist nie absolut, sondern immer steigerbar. Das stelle ich jeden Tag fest, wenn ich aus meiner Haustür trete und den Eindruck habe, meinem gefühlten Zuhause wieder um ein Stückchen näher zu sein. Prag macht das mit einem; es hält wirklich fest, weil es an jeder einzelnen seiner Ecken zwischen Übersichtlichkeit und Überraschungsgehalt schwankt.
Mit der Arbeit ist es ähnlich, und obwohl ich weiß, dass das Ende meines Praktikums nicht das Ende meines journalistischen Daseins ist, frustriert mich die Vorstellung, die Recherche zu Themen aufgeben zu müssen, die mir ans Herz gewachsen sind wie kaum welche zuvor.

Solche sind die schmerzhaften Resultate von uneingeschränkt guten Erlebnissen. Aus der "unerträglichen Leichtigkeit des Seins" ist mir ein Satz besonders in Erinnerung geblieben, an den ich in den vergangenen Tagen häufig denken musste. Er lautet ungefähr: "Wer die Stadt verlassen möchte, in der er lebt, ist nicht glücklich" und bezieht sich ironischerweise auf die Heldin, die sich in Prag so unwohl fühlt, dass sie ihm entfliehen möchte. In meinem Fall lässt sich die Aussage nicht nur in Bezug auf Prag umkehren, vielmehr wird mir zunehmend bewusst, dass die Sentenz auch in die andere Richtung funktioniert. Wer die Stadt, in der er lebt, um keinen Preis verlassen möchte, ist glücklich.

Zum ersten Mal überhaupt habe ich das Glück in seinen (fast) ausnahmslos allen Erscheinungen kennen gelernt. Mit der Menge an dem, was zusammenkommt, das man andernorts vermisst hat - pure Ästhetik, ehrliche Leidenschaft für das, was man tut, Herausforderung auf einer praktischen Ebene, Emotionsgeladenheit und Sensibilität für Dinge, an die man lange nicht mehr gedacht hat - steigt auch die Angst vor deren Verlust.

Ich betrachte es selbst gewissermaßen als Zynismus in meiner eigenen Geschichte, dass ich exakt dieses Problem vor meinem Amerika-Aufenthalt 2006 vorab bis ins Detail analysiert hatte. Vier Jahre danach kann ich mir eingestehen, dass ich dort bis auf wenige Ausnahmen keine unentbehrlichen Begegnungen hatte (dafür umso mehr verzichtbare), keine Sekunde ist seither vergangen, in der ich meinen Rückflug nach Europa als verlustreich betrachtet hätte.
Unter anderen Voraussetzungen bin ich nach Prag gekommen. Ich war voll Vorfreude, aber die wahrheitsgemäßen Gründe für mein Auslandssemester waren eben Ablenkung und Abwechslung.

Ich weiß heute nicht, ob ich "Prag" in vier Jahren als Gewinn oder Verlust bezeichnen werde. Hoffentlich sehe ich es wie Oscars Großmutter in "Extremely Loud and Incredibly Close", die in einem der ganz wenigen geschriebenen Sätze, die mich jemals zum Weinen brachten, sagt: "It's better to lose than never to have had." Um es so zu sehen, braucht man wahrscheinlich mehr Distanz als ich sie jetzt habe - schließlich befinde ich mich eigentlich noch im Zustand des have und nicht des lose.

Was ich wirklich sagen will, kann ich nicht ausdrücken, deshalb bleibt es bei einem verhältnismäßig kurzen Blogeintrag. Eines habe ich hier jedenfalls gelernt. Alles ist von der Geographie abhängig. Selbst das Glück.

Donnerstag, 15. Juli 2010

Von Stacheldraht und nackten Männern


Schon vor längerer Zeit hat mir ein belesener Bekannter empfohlen, in fiktionalen Texten keinesfalls auf Kraftausdrücke und erotisches Vokabular zu verzichten. Große Literaten bedienten sich nämlich zuhauf des Alltagsjargons, der ja nun einmal aus Schimpfwörtern und dumpfen Flüchen bestünde. Die Befreiung von der Prüderie hat mich zwar ein paar Jahre gekostet, mais voilá, c'est mon début viscéral. Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Figuren, die in ihr vorkommen, sind nicht frei erfunden.

Es war heiß am vergangenen Wochenende. Selbst meine im Allgemeinen hitzeresistente Natur hatte beim unbeabsichtigten Spaziergang durch Vršovice, das - völlig frei von Schönheit - im Südosten des Stadtkerns liegt, Selbsterhaltungsprobleme. Zum ersten Mal seit ich hier bin, glaube ich, hat mich für einen kurzen Moment pragmatisches Heimweh eingeholt. Zuhause hätte ich immerhin gewusst, wo man sich erfrischen kann. Wenigstens an Schwimmbädern mangelt es den Umgebungen meiner Wohnsitze wahrlich nicht. Anders verhält es sich in Prag, zumindest für Nicht-Insider: Wer nicht in der Moldau baden gehen will, wird sich wohl oder übel zu dem eigentlich vielversprechenden, da ja als mit großen Schwimmbecken "unter freiem Himmel" angepriesenen Strandbad in besagtem Vršovice begeben müssen. Der Ausflug hatte für mich so lange den Charakter eines Abenteuertrips - immerhin muss man mangels nahegelegener Metrostation mit der von mir wenig benutzten Straßenbahn vorlieb nehmen, um zum Slavia-Bad zu gelangen - bis ich nach getaner Erfrischung feststellte, nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch* von eben dort wegzuwohnen. Dazu aber später mehr.

Lange wusste ich nicht, was die Leute meinten, wenn sie von den plattenverkommenen Prager Randbezirken sprachen. Zwischen den unzähligen Art-Noveau-Bauten tauchen hier durchaus immer mal wieder architektonische Sündhaftigkeiten sozialistisch-romantischer Vorstellungen auf - immerhin bin ich ja in Zizkov durchaus herumgekommen, und in die falschen Straßen Dejvices bin ich auch schon abgebogen. Aber richtige Platten-Wohngegenden waren mir bislang fremd.
Es ist tatsächlich desillusionierend, die Idylle der Innenstadt hinter sich zu lassen und einen Blick nach "außen" zu wagen, wo die Geschichte noch sehr lebendig ist, vielleicht sogar nicht richtig von der Gegenwart zu trennen ist.
Am irritierendsten erschien mir bei diesem Besuch das Phänomen von dem mit den geographischen Faktoren korrellierenden optischen Erscheinungsbild der Bewohner. Zuletzt begegnet ist mir dieses Kuriosum in den USA, wo ich lange versucht habe, die dort offen formulierte Idee von einer Gesellschaft der zwei Klassen, die man anhand physisch-ästhetischer Kriterien bestimmen könne, als Klischee abzutun. Prags Gesellschaft lässt sich für das Auge des amateurhaften Gesellschaftsbeobachters leider genauso zweiteilen.
Der aufmerksame Leser müsste an dieser Stelle meine Überschrift als Köder für die Sensationsgeilen durchschaut haben. Nackte Männer hat es wirklich gegeben. Sie waren aber wirklich nicht schön.

Als Hobbysoziologe kann man wirklich seinen Spaß haben, indem man einen Schwimmbadbesuch in Prag unternimmt. Allein die Schlange (im Tschechischen gibt es ein treffendes, im Deutschen leider nicht existierendes Wort, das sich in Anlehnung an den Zuspruch bei ausnahmsweise eingeführter Mangelware mit "Bananenschlange" übersetzen lässt), die sich an sonnigen Wochenendtagen vor der einzig vorhandenen Kasse bildet und tapfer wartet, ist sehenswert. Hat man den Eintritt nach unbestimmter Zeit gemeistert, wartet der nächste Schock. Ich kann nur das Bild beschreiben, das sich Damen bietet, welche die für sie vorgesehene Umkleide-/Schließfach-/Dusch-/Toiletten-Abteilung passieren müssen, um in die in Kürze im Detail darzustellende Außenanlage zu gelangen. Nackte Frauen, halbnackte Frauen, viel zu wenige bekleidete Frauen - dieser erste Eindruck hinterlässt Spuren. Und für alle, die meinen, aufgrund meiner vermeintlichen Übertreibung die Augen verdrehen zu müssen und das alles nicht so schlimm zu finden, sei betont: Auch die nackten Frauen waren wirklich nicht schön. Mehr Hängebrüste, Zellulitis und Nacktheit gab es natürlich unter freiem Himmel zu betrachten.
Immerhin lenkte die nicht anders als als interessant zu bezeichnende Gestaltung des Schwimmbads samt seines - nennen wir es ganz euphemistisch: Parks vom Anblick von so viel unansehnlicher Haut ab. Zumal jeder, der von Kindesbeinen an die Formel "ins Schwimmbad immer barfuß" verinnerlicht hat, zunächst damit beschäftigt sein wird, sich auf dem Betonpflaster, das sich Liegewiese nennt, nicht die Fersen zu verbrennen.
Ich wiederum wurde relativ abrupt aus diesem (im Übrigen verzweifelten) Versuch gerissen, denn unmittelbar, nachdem ich mich auf den vor Trocken- und Ungepflegtheit schon an ein kurzgeschorenes Maisfeld erinnernden, aber immerhin vorhandenen Rasen gerettet hatte, stand plötzlich ein nackter Mann vor mir. Spätestens seitdem steht auch fest, dass der "Naked Man" bei mir nicht funktionieren würde (außer seine Intention wäre das Auslösen eines Herzinfarkts bei mir).

Die kommenden Ereignisse sind für alle, da mir nahestehenden, Leser dieses Blogs wohl selbsterklärend. Ich hektisch und verlegen auf dem Weg aus dem FKK-Bereich. Mich in Sicherheit wiegend. Voller Zufriedenheit mich rückwärts sinkend ins immer noch ausgedorrene und daher pieksende Gras niederlassend und aus Bequemlichkeit selbst das nervtötende Baby im Kinderwagen der viel zu jungen Mutter am Nachbarfleck ignorierend. Alles, um festzustellen: In diesem Schwimmbad gibt es keinen streng abgegrenzten FKK-Bereich. Ich habe an diesem Tag mehr Penisse gesehen als der Durchschnittsnutzer von Chatroulette. (Schade, dass ich meine Blogeinträge unjournalistisch und daher ohne Zwischenüberschriften gestalte). Die nackte-Brüste-Trefferquote liegt übrigens garantiert auch weit über derjenigen von Chatroulette. Die Qualität des Gezeigten wiederum ist zmiteinander vergleichbar.

Auch im Nachhinein bin ich noch überrascht von meiner fast antineurotischen Nutzung des Pools (die mich im Anschluss allerdings zur wohl längsten Dusche meines Lebens veranlasst hat). Selbst dem Wasser, das aus den Wasserhähnen zum Abspritzen an allen Eingängen des Bads kommt und das man nur zum Fließen bringt, wenn wie im Knast an einer schon sehr abgenutzten Stahlkette zieht, ist mehr Chlor beigefügt als demjenigen in dem gefühlte drei Meter tiefen Becken, in dem gefühlte 300 Menschen ... schwimmen ist das falsche Wort. Sich waschen oder so. Ein bisschen verwundert bin ich zudem darüber, dass die hiesigen Badegäste so ruhigen Gemüts ihre Bahnen durchs Wasser ziehen und sich freiwillig auf den Liegeplätzen den Rücken zerkratzen. Selbst mir war der Anblick von Stacheldraht über dem das Schwimmbad umgebenden Zaun unheimlich - ohne dass ich negative Erfahrungen damit gemacht hätte.

Wirklich erhellend war auch mein Heimweg nicht. Vorm Ausgang der Slavia-Sportplätze kann man in der Ferne schon andeutungsweise die Spitzen des Hilton-Hotels am Neuen Jüdischen Friedhof in Zizkov erkennen, zugegebenermaßen nicht die schönste Gegend Prags. Von dort sind es allerdings nur noch 15 Minuten bis zu meiner Bleibe, die wiederum im ohne Frage hübschesten Wohnviertel der Stadt gelegen ist. Die einzige Auffälligkeit, die vielleicht noch repräsentativer für das soziale Gefälle in Prag ist als die eingangs genannten optischen Divergenzien, bestand in der hohen Anzahl an Swimming Pools in den Gärten der schönen Einfamilienhäuser, die plötzlich wieder dort beginnen, wo Prag 12 in Prag 3 mündet - was ich bislang für das einzige Vinohrady gehalten habe. Offensichtlich hat es noch eine Kehrseite. Und wer auf der einen Seite der Medaille wohnt, der hat es eben nicht nötig, ins öffentliche Schwimmbad zu gehen. Der geht einfach in den eigenen Garten.

*M. und T. gewidmet.

Mittwoch, 30. Juni 2010

Begegnungen I: Hans Magnus Enzensberger

Nun ist Hans Magnus Enzensberger ja nicht irgendwer. Er ist mein Lieblingsessayist, Lieblingslyriker, Lieblingsherausgeber. Mein Idol. Er ist aber auch Teil der verschwindenden deutschen intellektuellen Elite, einer der drei verbliebenen echten Dichter und Denker unseres Landes, die Marke HME. Natürlich habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Interviewtermin mit ihm zu bekommen. Ein Gespräch mit ihm erschien mir noch wertvoller als eines mit Herta Müller, deren Prag-Besuch ebenfalls angekündigt war.
Ein Journalist, der viel Glück hat, kommt früher oder später in die Situation, einem seiner Vorbilder persönlich gegenübersitzen zu dürfen. Mit diesem Gegenüber hat man sich schon Jahre beschäftigt, man hat unendlich viele Fragen, die man ihm gern stellen möchte und natürlich hat man auch ein Bild im Kopf, das den Unerreichbaren gottesgleich aussehen lässt. Dieses Bild ist auch der Grund, warum der Journalist in den Minuten vor dem tatsächlichen Treffen in Panik ausbricht. Was, wenn man sich einen Charakter ausgemalt hat, der in keinster Weise demjenigen des Interviewten entspricht? Was, wenn man den Gegenbeweis für die eigene Menschenkenntnis erhält? Vor allem aber wird der Journalist feststellen, dass er die vielen Fragen, die er sich über all die Zeit hinweg zurechtgelegt hat, nicht wird stellen können. Zuerst wird er sich darüber natürlich ärgern. Wer für eine Zeitung schreibt, muss sich auch beim Interviewen dem Profil des Blatts anpassen und in erster Linie die Leserschaft bedienen und nicht sich selbst. Dass er sich also an aktuelle Themen und Bezüge zur Stadt, in der er schreibt, halten muss, spielt ihm nicht unbedingt in die Karten. Im nächsten Moment wird dem Journalisten jedoch klar werden, dass er die Fragen, die ihn am brennendsten interessieren, ohnehin nicht stellen kann. Oder hätte ich Herrn Enzensberger fragen können: "Wie tun Sie das bloß?!"?
Freilich nicht. Deshalb war ich schließlich froh, mich in meiner Rolle als Pressevertreterin hinter meiner Person verstecken zu können. Der größte Vorteil des Journalisten ist, dass er sich niemals rechtfertigen muss. Vielmehr war ich in der glücklichen Situation, das von Hans Magnus Enzensberger verlangen zu dürfen. Und mir ebenso im Klaren darüber, dass es kaum jemanden geben dürfte, der sich schwieriger aus der Reserve locken lässt als Enzensberger, der es gewohnt ist, bei den wichtigsten politischen Ereignissen, wirtschaftlichen Krisen und kulturellen Anlässen von der Zeit, dem Spiegel und der Süddeutschen um seine Meinung gebeten zu werden. Denn jemanden, der reflektierter ist als HME gibt es in ganz Deutschland nicht. Ebenso wenig fällt mir jemand ein, der seine differenzierte Meinung auch nur annähernd so präzise formulieren kann. So hätte auch ich gern an diversen Stellen unseres Interviews gefragt: "Herr Enzensberger, wie tun Sie das bloß?!" Jedes Wort ein Treffer, jeder Satz zitierfähig: So sprach ein 80-jähriger Schnelldenker zu mir, dem ich am liebsten einfach beim Sprechen zugesehen hätte anstatt dabei mitzuschreiben und mit einiger Verzögerung auf das Gesagte zu reagieren. Am Ende hielt ich ein druckreifes Interview in den Händen, das als einzigen Redigieraufwand eine rigorose Kürzung benötigte. Mehr als eine Stunde hatte ich mit Enzensberger gesprochen - beziehungsweise er mit mir - und hatte dabei letzten Endes doch die Gelegenheit, auch Fragen von persönlichem Interesse zu stellen. Tatsächlich glaube ich, dass ich auch etwas über den Charakter Enzensberger erfahren durfte. Der ist zwar nicht gottesähnlich, aber dafür im positivsten seiner Sinne menschlich. Auch nach dem Interview, in dem HME mich mit Vornamen ansprach, witzelte und sich von seiner freundlichsten Seite zeigte, habe ich noch unvergleichbar großen Respekt vor ihm.

Freitag, 11. Juni 2010

Begegnungen II: Bob Bob'n'doo Bob Bob Bob'n Dylan

In den wenigen Minuten, bevor das Konzert losging, war ich auf seltsame Weise apathisch. Wenn man einen Künstler so sehr bewundert wie ich Bob Dylan - und das schon seit so langer Zeit - dann birgt der Besuch seines Konzerts auch ein gewisses Risiko der Enttäuschung. Und die kann fatale Konsequenzen haben; im schlimmsten Fall kann man der Musik, die einen so lange begleitet hat, vielleicht nicht mehr lauschen, ohne dass einen die Erinnerung an einen schlechten Live-Auftritt heimsucht. So saß ich also da, zwischen einem Journalisten, zwei enthusiastischen Fans, bei denen es sich offensichtlich um Vater und Sohn handelte und hinter einer Reihe von ergrauten Männern mit Langhaarfrisur - Bob's Age würde ich mal schätzen, gefasst auf alles was da folge. Und die Wahrheit ist: Bob Dylan ist kein Konzertmusiker. Seine Lieder möchte ich eigentlich nicht hören, wenn Tausende von Menschen um mich herum sitzen, vor Aufregung schwitzend und auf ihren Stühlen herumzappelnd, und man nicht in Ruhe über den philosophischen Mehrwert eines Songs sinnieren kann, weil einem das Gejubele und Geklatsche im Anschluss an jede Darbietung eben daran erinnert, wo man sich befindet. Und das ist jedenfalls nicht ein ruhiges Eckchen zwischen dem eigenen Plattenspieler und der Stereoanlage, in das man sich bei jedem Mal Dylan-Auflegen pathetischerweise begibt. Das Konzert hätte also eine Enttäuschung werden können, wäre da nicht dieser Moment gewesen, der die Stimmung - zumindest für mich - verändert hat. Bob Dylan saß, wie insgesamt erstaunlich oft im Laufe des Konzerts, am Piano und stimmte "Just Like A Woman" an. Dass das Stück sowohl hinsichtlich der Melodie als auch des Texts zu meinen Lieblingskompositionen gehört, ist nicht der einzige Grund, warum die ersten Takte bei mir den turning point auslösten. Ich habe schon einmal eine großartige Version von "Just Like A Woman" bei einem Live-Konzert gehört und es mag zugegebenermaßen ziemlich ironisch klingen, dass es mich einen Umweg über die doch völlig verbotene Interpretation eines Dylan-Songs durch eine wunderbare Jazzsängerin kostete, aber: Der Moment war da, in dem ich nur noch die Musik wahrgenommen habe und ich mich erst in der o2-Arena wiedergefunden habe, als mein Hintermann mich versehentlich am Nacken streifte. Ich wollte schreiben: Der Moment, in dem Bob Dylan nur noch für mich gesungen hat, aber das wäre gelogen. Nicht nur weil es angesichts eines nahezu ausverkauften Stadions eine allzu offensichtliche Lüge ist, sondern auch, weil Bob Dylan es - und davon bin ich überzeugt - wie kein anderer versteht, die Distanz zum Publikum zu wahren. Bob Dylan will durch seine Musik sprechen - nur deswegen, und sehr viel weniger wegen seiner rauchigen Stimme, verkaufen sich seine CDs seit vier Jahrzehnten so gut. Wohl auch deshalb wechselte er kein einziges Wort mit den Zuschauern; das einzige Mal, dass er das Publikum direkt ansprach, war, um zum Schluss die Mitglieder seiner Band vorzustellen. Selbst der Abschiedsgruß verhielt sich nonverbal mit höflicher Verbeugung. Im Grunde ist auch "Zuschauer" ein falsch gewählter Begriff, denn Bob Dylan macht keine Show, er inszeniert allenfalls. Dieses Konzert hatte keine Leinwand, keine bunten Banner oder Flutlichter, sondern nur eine schwach beleuchtete schwarze Wand, auf der sich der Schatten Bob Dylans spiegelte. Die Bühne passte nicht in unser Zeitalter - eher noch in das imaginäre Wohnzimmer Bob Dylans, in dem ich eine ähnlich gemütlich aussehend gestaltete Instrumentallandschaft vermute, wo er sich je nach Lust nach und Laune eine Gitarre oder die Mundharmonika schnappen kann. Die dubiose Unterbrechung dieses ganzen stilechten Szenarios, zu dem eben auch die wie Jazzmusiker in schicke Anzüge gekleideten Bandmitglieder gehörten, gestaltete sich in Form von zwei Effekten, die sich nicht anders als mit unangemessen abrupt beschreiben lassen und die ich nur auf den individuellen Humor der Techniker zurückführen kann. Es ist nämlich einfach so, dass Bob Dylan keine Technik braucht, um seine Größe unter Beweis zu stellen. Der überdimensionale Schatten hinter seinem Rücken hat schon mehr Präsenz als es ein Popmusiker mit zig Leinwänden je haben könnte. Und auch Bob Dylan versteht es trotz seiner - vom gesanglichen Standpunkt abgesehen - Schweigsamkeit, sich als Star zu präsentieren. Er ließ minutenlang auf sich warten, bevor er nach zwei Stunden Konzert noch drei Zugaben spielte; außerdem symbolisiert wohl auch sein obligatorischer Cowboyhut eher die Bindung an die Fangemeinde als die Bekundung eines Rebellentums, das er heute nicht mehr nötig hat. Ein Smoking an Stelle vom sich in Jeanshose und -hemd äußernden "Tangled up in Blue"-Prinzip von vor Generationen spricht seine eigene Sprache. Aber diese Veränderung ist okay, denn Bob Dylan hat ja nie einen Hehl daraus gemacht dass er rollt und tumbled, dass er an Modern Times glaubt. Das unterscheidet ihn von vielen seiner Fans, die unterhalten werden wollen wie auf einem Rockkonzert und ein, nunja, restless farewell ausbuhen, weil sie den Unterschied zwischen Folk und Rock noch nicht begriffen haben. Ich war auch enttäuscht, als das Konzert vorbei war und dachte: "Ist es sein Ernst, nach einer halben Stunde aufzuhören mit der Musik?", habe dann aber mit Blick auf die Uhr festgestellt, dass mich mein Gefühl um zwei Stunden betrogen hat. Das spricht nur für Bob Dylan.

Freitag, 7. Mai 2010

Wahlkämpfernaturen

Diejenigen unter euch, die ich hin und wieder mit meinen wissenschaftlichen Interessen behellige, wissen um mein Magistervorhaben: Ich möchte die These zu formulieren, dass sich Geschichtsaufarbeitung positiv auf die politische Kultur einer Gesellschaft auswirkt. Demzufolge würde bei steigender historischer Kenntnis auch der Wille, aktiv am politischen Miteinander zu partizipieren, wachsen. Der Zusammenhang zwischen Geschichtsaufarbeitung und einer positiven politischen Kultur erschien mir bislang immer als zweifellos gegeben. Das Resultat großer Informiertheit, dafür hätte ich bis vor kurzem plädiert, ist notwendigerweise gut.

Gerade erlebe ich mit
, wie sich am Beispiel des Wahlkampfs zu den tschechischen Parlamentswahlen Ende Mai meine These bestätigt - allerdings mit einer Konsequenz, die mir nie in den Sinn gekommen wäre.
Die Kampagnen der tschechischen Parteien
, die zu den Wahlen antreten, wirken wie Negativwerbung. Es ist, wie wenn Burger King in seinen Reklamespots das McDonald's-Personal ins Lächerliche zieht: Die politischen Kontrahenten hacken vor allem aufeinander herum anstatt sich selbst zu profilieren.
Dann gibt es da eine Reihe von ganz jungen Parteien
, allen voran die bei Jugendlichen beliebten Neuerscheinungen "Öffentliche Angelegenheiten" sowie "TOP 09". Besonders erstere ist entschlossen, schon mit Hilfe ihres Namens "Demokratie" ins Land zu schreien - suggerierend, dass diese Staatsform hierzulande in Gefahr sei.

Nun ist es grundsätzlich wahr
, dass Korruption ebenso wie politische Intransparenz in Tschechien Probleme sind. Das werfen gerade diese beiden neuen Parteien der amtierenden Regierung vor - Präsident Klaus reagiert darauf leichtfertig damit, die Empfehlung an Erst- wie Wiederwähler auszusprechen, bloß nicht eine jener genannten Parteien seine Stimme zu geben. Klaus' Begründung lautet dabei ironischerweise, die jungen Parteien seien eine Bedrohung für die Demokratie - also genau das, was diese in dem immer kommentarbereiten Präsidenten sehen.
Hauptproblem an den tschechischen Parlamentswahlen ist das geringe öffentliche Interesse dafür. Nur knapp über 50 Prozent der Bürger haben bei den vergangenen Wahlen ihre Stimme abgegeben
, darunter weniger junge Menschen als jene älteren Staatsbürger, die noch die kommunistischen Zeiten kennen, in denen jeder wählen musste. Nicht nur der Zwang zur Wahl ist vielen erhalten geblieben, auch der damals zu wählenden Partei - heute leider noch immer existent - gibt ein Großteil davon ihr Kreuzchen.

Der Coup, den sich nun die Anhänger von "TOP 09" und "Öffentliche Angelegenheiten" ausgedacht haben, ist gerade zu genial und meines Wissens vorbildlos. Seit einiger Zeit kursiert auf den tschechischen Seiten von Youtube ein Video. Der Inhalt: Junge Wähler demonstrieren, wie alle tschechischen Erstwähler die eigenen Großeltern überreden sollten, bei der anstehenden Wahl nicht links zu wählen. Nicht links, das bedeutet im Klartext: Weder die Kommunisten noch die Sozialdemokraten.
Einige Zeitungen und Magazine
, insbesondere freilich die bürgerlich gesinnten, die auch viele junge Leser haben, unterstützen diese - was ist sie eigentlich? gesellschaftliche? - Kampagne indirekt, indem sie die Jugendlichen (beliebtes Synonym hierfür ist in Tschechien die "Generation Facebook") für ihren Mut, ihre Meinung zu äußern, loben. Die Frage ist natürlich: Wie viel hat diese Aktion mit Meinungsäußerung zu tun, wie viel mit Meinungsmanipulation?
Ende dieser Woche ist die Situation zwischen den Wahlkämpfenden und der Presse eskaliert. Der stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten wurde bei einer Wahlveranstaltung von einem - nunja
, ihn sicherlich nicht wählendem - Teilnehmer ins Gesicht geschlagen und musste über Nacht ins Krankenhaus. Einen Tag später, nachdem einige Tageszeitungen dieses Ereignis mit dem Großeltern-Video in Zusammenhang gebracht hatten, gaben die Sozialdemokraten den Boykott fünf wichtiger hiesiger Zeitungen und Magazine bekannt.

Die Sozialdemokraten fühlen sich natürlich ganz zu Recht beleidigt
, dass sie von der Jugend mit den Kommunisten gleichgesetzt werden und Hetze gegen sie betrieben wird. Kritikern der Video-Kampagne missfällt außerdem der Gedanke, mit Überredungskunst alte Verwandte von ihrer Position abzubringen zu versuchen. Einer meiner Gesprächspartner fand, das Überreden sei nur einen kurzen Schritt davon entfernt, das Kreuzchen für die Großeltern selbst zu übernehmen.
Mir stößt das Video aus einem anderen Grund sauer auf. Es trifft meines Erachtens keine politische Aussage
. Atattdessen stellt es eine ganze Gesellschaftsgruppe als unmündig dar. Die Jugendlichen, die auf dem Video zu sehen sind, wollen zeigen, dass ihre Großeltern aus Gewohnheit statt aus Überzeugung wählen und es daher legitim sei, ihnen die Wahl einer anderen Partei einzureden. Schwierig scheint das Ganze auch nicht zu sein: Großeltern sind alt, ergo dumm.

Wie in Deutschland die 68er, werden in Tschechien auch die Vertreter der "Generation Facebook" in die Geschichtsbücher eingehen als die Generation, die ihre Eltern und Großeltern mit deren Abhängigkeit von der Autorität konfrontiert hat. Doch wie die 68er auch wird sich die "Generation Facebook" in noch späteren Geschichtsbüchern kritischen historischen Perspektiven stellen müssen, die auf die unsachlichen und unfairen Argumente in dieser Konfrontation hinweisen werden. Denn die Jugendlichen, die ihre Großeltern mit - wohlgemerkter uninformierender - Überredungskunst zum Umwählen bringen wollen, übernehmen schlichtweg die Taktik der Kommunisten: Sag den Leuten, was sie wählen sollen und sie tun es. Zumindest dann, wenn man "sagen" locker definiert.

Sonntag, 2. Mai 2010

Paris - Prag


Als ich vor wenigen Tagen von reiseliterarisch gebildeten Freunden gefragt wurde, ob Prag meiner Ansicht nach die Bezeichnung "Paris des Ostens" verdient hätte, reagierte ich sofort mit einem überschwenglichen "Ja!". Prag hat alles, was Paris zu haben meint: Kunst, Kultur und "Szene". In einem meiner reflektierten Momente rekapitulierte ich noch einmal das Gespräch und fragte mich, wer eigentlich auf die Idee gekommen war, Prag als neues Paris zu betiteln. Freilich hat der Vergleich etwas Pathetisches, Unberührtes; eine Kombination, die wohl jeder Reisejournalist mit Wortspielen zu erreichen sucht. Die Frage ist: Ist der Vergleich ein Original?
Um herauszufinden, wer so viel Pathos in seinen Reisebericht gelegt und das romantische Paris mit dem unzugänglichen Osten in Zusammenhang gebracht hatte, startete ich originellerweise eine Google-Recherche. Folgende Stichpunkte sind Zusammenfassungen von dem, was ich unter den obersten Treffern fand:

1. Budapest - Paris des Ostens
2. Bulkowina - Paris des Ostens
3. Shanghai - Paris des Ostens
4. Warschau - Paris des Ostens
5. Riga - Paris des Ostens
6. Wien - Paris des Ostens
7. Bukarest - Paris des Ostens
8. Leipzig - Paris des Ostens
9. Gaziantep - Paris des Ostens
10. Beirut - Paris des Ostens

Die Auflistung spricht für sich selbst, sodass ich auf jegliche sarkastische Anmerkung verzichte. Selten habe ich ein so treffendes Beispiel dafür gefunden, wie seltsam undefiniert "der Osten" in der Umgangssprache ist. Dafür scheint Paris weitaus weniger einzigartig zu sein als sein Ruf es uns Glauben machen will. Wir finden es auf zehn Orten der Welt zwischen Wien und Shanghai - Prag nicht mitgerechnet. Das sind 8478 Kilometer, in denen wir zehn "Parise des Ostens" vorfinden, das näheste davon liegt mehr als 1200 Kilometer vom richtigen Paris entfernt.
Verzweifelt habe ich versucht, eine Gemeinsamkeit auszumachen, die erklären könnte, wie es zur gleichen Synonymisierung für alle diese Städte kam. Verschiedene Lösungsvorschläge gingen mir durch den Kopf: Städte im Landesinneren - umgeben von Bergen - Groß-/Hauptstädte - ehemalige (oder noch aktive) Diktaturen - bevorzugterweise (Ex-)Kommunismushochburgen. Doch all das ist fahrlässig aus dem Ärmel geschüttelt und wirft vor allem eine Frage auf: "Was hat das mit Paris zu tun?" Die Antwort darauf ist einfach. Sie lautet: "Nichts".
Dennoch bestimmt Paris den Messpegel, nach dem bestimmt wird, ob eine Stadt "paris" genug ist, um als sehens- oder lebenswert zu gelten. Wie etabliert diese Methode, die Wertigkeiten von Städten zu benennen ist, erkenne ich im Nachhinein an mir selbst: Obwohl ich Paris nicht für eine herausragend schöne Stadt halte, werte ich es reflexartig als Kompliment, wenn man Prag mit ihr vergleicht und das, obwohl ich mich in Prag verliebt habe wie in kaum eine Stadt zuvor.

Am Ende habe ich doch eine vergleichbare Szenerie innerhalb beider Städte gefunden: Das sind der Pariser Stadtteil "Le Marais" und der Prager Park am tschechischen Senat auf der Kleinseite. Beide Orte taugen zum Entspannen und als Rückzugsort, wenn die Touristenmassen zu sehr einengen - wenngleich Prag auch noch trotz seiner Unmengen an Touristen nicht seinen romantisch-unberührten Charme verliert. Auf den muss Paris schon länger verzichten.

Dienstag, 27. April 2010

Nationalhelden

Ich habe die schlechte Angewohnheit, Denkmälern, die als Mittelpunkt großer Plätze gedacht sind, wenig Beachtung zu schenken. Meistens nehme ich die Personen, derer mit der jeweiligen Statue gedacht werden soll, nicht einmal wahr. Als ich vor kurzem gefragt wurde, was ich von dem Jan-Hus-Denkmal auf dem Prager Altstadtring halte, musste ich daher erst einmal passen. Zu meiner Verteidigung sei betont, dass besagtes Denkmal eine magnetische Wirkung auf Touristen zu haben scheint - undenkbar, dem Kunstwerk mehr als fünf Meter nahe zu kommen, ohne dass man dabei einem Amateurfotografen und seinem posierenden Model im Weg stünde.
Einmal auf die Würdigung Jan Hus' auf dem wichtigsten Prager Platz aufmerksam gemacht, begann ich aber, die Tatsache an sich interessant zu finden, dass dem mittelalterlichen Reformer ausgerechnet im säkularen Tschechien eine so große Bedeutung beigemessen wird.
Die erste einigermaßen witzige Beobachtung, die man jeglichen Plastiken Jan Hus' gegenüber machen muss, besteht darin, dass es vollends unbekannt ist, wie der Begründer des Hussitentums ausgesehen hat. Das bekannteste Porträt Jan Hus' stammt aus den Pinselstrichen eines unbekannten Malers des 16. Jahrhunderts und ist genauso sehr Phantasieprodukt wie das Denkmal auf dem Altstädter Ring. Der andere Punkt, über den man sich wundern kann, ist die Würdigung eines prelutheranischen Reformators, der bis jetzt trotz einer solchen Empfehlung des ehemaligen Prager Erzbischofs Miroslav Vlk an den Vatikan keine Rehabilitierung von der katholischen Kirche erfahren hat, die ihn 1415 auf dem Kostanzer Konzil hinrichten ließ und die immerhin als einzige Kirche in der Tschechischen Republik überhaupt eine Rolle spielt. Nur 2,3 Prozent der tschechischen Bevölkerung ist protestantisch; trotzdem genießt Jan Hus in der ganzen Bevölkerung einen Ruf als Befreier der Nation.
Als ich vergangene Woche mit Freunden einen Ausflug ins südböhmische Tábor machte, entdeckten wir vor Ort das "Jan-Hus-Museum" und zeigten uns allesamt überrascht darüber, wie viele Städte der immerhin im Alter von 45 Jahren Hingerichtete in seinem kurzen Leben bereist haben sollte. Bei der nachträglichen Recherche stellte ich enttäuschenderweise fest, dass Jan Hus tatsächlich niemals in Tábor gewesen war; lediglich seine radikalen Anhänger waren 1420 auf die im heutigen Tábor gelegene Festung Kotnov gezogen, um dort einen Gottesstaat zu errichten. Als Aushängeschild für Touristenbesuche eignet er sich trotzdem: Als wir in dem Táborer Museum nachfragten, ob die Stadt viele ausländische Gäste empfange, donnerte uns ein "selbstverständlich" entgegen und wir wurden auf die historische Bedeutung Jan Hus' aufmerksam gemacht, über den man sich im gleichnamigen Museum schließlich ausführlich informieren könne. Warum sich der aufmüpfige Rektor der Karlsuniversität aber den Status des Volksbefreiers erworben hat und heute als Nationalheld gefeiert wird, beantworten auch die ausführlichen Informationstafeln nicht. Da wird freilich der mittelalterliche Konflikt zwischen Weltlich- und Geistlichkeit aufgeführt; wie das aber zur politischen Rolle eines Prager Priesters und Universitätsrektors passt und warum dessen Lebensende im Zusammenhang mit dem ersten Prager Fenstersturz steht - das bleibt irgendwo zwischen den Zeilen verborgen.
Niemand will Jan Hus absprechen, ein tschechisches Nationalbewusstsein aus der Taufe gehoben und dem Königreich Böhmen zu seiner Eigenständigkeit verholfen zu haben. Wie viel ehrliche Anerkennung steckt aber hinter seiner Denkmalsetzung, wenn nicht einmal das Museum, das sich angesichts seines Namens eigentlich ausschließlich mit diesem Thema befassen sollte, erklärt, warum er als zentrale politische Figur Böhmens gefeiert wird?

Freitag, 23. April 2010

Prager Melodien

Prag ist ein Ort für Musikliebhaber. Wer hier durch die Altstadt flaniert, dem klingen pausenlos Melodien in den Ohren - wenn nicht von den Instrumenten, auf denen die zahlreichen Straßenmusikanten spielen, dann zumindest von den romantischen Sinfonien oder dem entspanntem Dixieland, die man beim Anblick von mittelalterlichen Bauten einerseits und jugendstilistisch verzierten Fassaden andererseits halbautomatisch assoziiert.
Musik wirkt auch als ein Mittel der Begegnung. Die Bourbon Street Ramblers, die - mal auf der Karlsbrücke, mal auf dem Altstädter Ring - Straßenswing auf hohem Niveau machen, begeistern Touristen und die Einwohner Prags gleichermaßen.
Generationen spielen keine Rolle mehr, wenn auf den Bühnen der großen Festivals die besten Künstler ihres Genres auftreten: Im Mai und Juni gastieren rund um Rudolfinum und Smetana-Saal große Dirigenten, Orchester und Symphonien beim Prager Frühling. Unter den Zuschauern wird man dort Konstellationen antreffen, die nur auf besonderen Anlässen üblich sind: Töchter begleiten ihre Väter dorthin, Angestellte leisten ihren Chefs Gesellschaft und Freunde aus Vinohrady treffen sich dort mit ihren Bekannten aus Smichov. Kurzum: Musik ist das Verbindungsglied der Bürger Prags.
Vergangene Woche stellte mir ein tschechischer Student eine Frage, die mich zum Nachdenken brachte: "Wer ist der deutsche Bob Dylan?", wollte er wissen, und konkretisierte: "Gibt es einen Sänger, den jeder in Deutschland mag?" Nach einem Augenblick, in dem ich nach einer ernsthaften Antwort auf diese Frage suchte, hakte er nach: "Vielleicht Hansi Hinterseer?" Selbstverständlich brach ich auf Anhieb in einen Zustand aus, der irgendwo zwischen Lachtränen und Empörung lag. Erst als ich merkte, dass es meinem Gesprächsparner mit der letzten Frage ernst gewesen war, gesellte sich zu meinem Amüsement der ehrliche Schock. Was für ein Bild haben unsere Nachbarn bloß von uns?! Ich bin versucht, Herrn Hinterseer persönlich die Schuld an diesem Image zu geben; seine ledigliche Existenz erklärt aber leider noch lange nicht, warum ein gewisser Anteil meiner Landsleute tatsächlich - und das auch noch freiwillig - seinem allzeit fröhlichen Geträller lauscht.
Die Unterhaltung mit dem interessierten tschechischen Studenten jedenfalls hat mich gelehrt: Die Qualität von "Volksmusik" ist eine Frage der Definition. Wenn ein Prager von seinem Lieblingsvolkssänger erzählt, begeht man einen Fehler, wenn man ihn wegen dieser Geschmacksbekundung in eine Schublade steckt, in die es von all unseren Bekannten bislang vielleicht allenfalls unsere Großeltern geschafft haben. "Volksmusik" ist in Tschechien das, was man in Deutschland als guten Folk bezeichnen würde. Und es gibt hier populäre Vertreter dieses Genres, die altersgrenzenüberschreitend als Könner ihres Fachs anerkannt sind. Würde man einen Tschechen nach dem "Bob Dylan" seines Landes fragen, ihm würden vermutlich zwei Namen einfallen: Da ist Jaromír Nohavica, der sich auch über die Republik hinaus einen Namen gemacht hat und der musikalisch wohl Leonard Cohen noch näher steht als Bob Dylan. Zum anderen würde wahrscheinlich der Name Karel Plíhals fallen, der - wie die Gäste im Musikantenstadl - in der Regel vor sitzendem Publikum auftritt, mit dem Unterschied, dass er eine Gitarre zu betätigen weiß und außerdem eine schöne Stimme hat, mit der er über Weltbewegenderes singt als darüber, wie schön der Tag mit Hansi gewesen ist.
Mir ist immer noch kein Künstler eingefallen, der in Hinsicht auf seine Beliebtheitswerte oder wenigstens auf seinen musikalischen Einfluss in Deutschland mit Bob Dylan verglichen werden könnte (erhellende Vorschläge nehme ich entgegen).
Allzu gern würde ich mich darin wähnen, meine Nationalität wenigstens mit den größten Komponisten der Vergangenheit zu teilen. Dann aber stelle ich fest, dass selbst jene - man denke nur an Beethoven oder Händel - die Flucht aus ihrem Vaterland ergriffen haben, um in anderen Gefilden nach künstlerischer Inspiration zu suchen. Mit Musik kann man als Deutsche in Tschechien keinen Staat gewinnen *). Dafür darf man hier im Alltag eine Auswahl an musikalischer Qualität genießen, von der man zu Hause nur träumen kann.

*) Ich bitte um Verzeihung für diesen Witz.

Dienstag, 20. April 2010

The Times They Are A-Changing

Das Prinzip tschechischen Humors ist überaus sympathisch. Wer eine lustige Geschichte zum Besten geben will, so wird empfohlen, der soll von einer peinlichen Angelegenheit berichten - selbstverständlich vorausgesetzt, bei dem Verursacher der Peinlichkeit handelt es sich um den Erzähler persönlich. Um meine Integrationsbereitschaft in die tschechische Mentalität zu signalisieren, möchte ich nun also eine Peinlichkeit gestehen. Ich habe heute an Bushido gedacht (den Gangster-Rapper, nicht den Vehaltenskodex der Samurai). Es widerspricht dem originalgetreuen tschechischen Humorverständnis, Mitleid zu erwecken und den Gesprächspartner damit milde zu stimmen, sodass ich auf einen langatmigen Rechtfertigungsversuch dieses Gedankens verzichte.
Im Zuge meines Gedankengangs jedenfalls erinnerte ich mich an den Filmtitel der Bushido-Autobiographie "Zeiten ändern Dich" und machte eine schockierende Feststellung: Übersetzt man den Filmtitel ins Englische - was, ich hoffe es inständigst, in der Kinowelt noch nicht geschehen ist - gleicht er fast dem Namen eines Albums von Bob Dylan. "The Times They Are A-Changing" zählt meiner Ansicht nach zu den besten Studio-Alben des 20. Jahrhunderts. Schlimm genug, dass sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Aussage des Bushido-Films und der Bob-Dylan-Platte kaum verleugnen lässt (es ist mir bewusst, dass ich ein Hausverbot in allen Konzerthallen, in denen Bob Dylan jemals aufgetreten ist, für diesen Vergleich verdient hätte). Noch schlimmer erscheint mir, dass Bushido sich selbst als gesellschaftskritischer Barde der Nation fühlen könnte. Es ist noch nicht so lange her, dass Bushido zu Gast bei Johannes B. Kerner war - und ja, trotz der streitbaren Qualität der Talkrunde noch im ZDF - und dort mit einer Vertreterin der Hamburger CDU über Politik diskutierte. Man muss sich dieselbe Situation vor 45 Jahren vorstellen. Es ist die Zeit kurz vor Woodstock und Bob Dylan oder ein vergleichbarer anderer Vertreter der 68-Generation hat einen Auftritt in einer renommierten Fernsehshow. Damals schimpften die Eltern der Dylan/Joplin/Lennon-Anhänger, die so altklug die Verfehlungen von Politik und Gesellschaft anprangerten, über die moderne Musik und die ganze Hippie-Kultur auf dieselbe Art, in der wir es heute über Bushido tun. Was aber, wenn unsere Kinder und Enkel in ein paar Jahrzehnten Bushido als den Songwriter feiern, der die Musik revolutioniert hat und er zu dem Helden wird, der es gewagt hat, die Tabus der Konservativen zu brechen? Wenn aus Hippietum Hip-Hop-Tum wird? Was, wenn sie uns vorwerfen, das Genie in Bushido verkannt zu haben und sein Grab zum nationalen Heiligtum ernennen? (Vorsichtshalber habe ich es geprüft: Bushido wird es immerhin nicht schaffen, in den glorreichen "Club of 27" einzutreten).
Bob Dylan hat es 1964 ja schon angekündigt: "The Times They Are A-Changing"; Bushido hat die daraus vielleicht einzig richtige Schlussfolgerung gezogen. Die Zeiten ändern nicht nur sich, sondern auch Dich. Das bedeutet immerhin, dass es uns nicht gänzlich vom Hocker hauen wird, wenn unsere Kinder Sonntags morgens am Frühstückstisch von Drogen, Sex und Gangbang der vergangenen Nacht berichten und dem vielleicht noch ein freundliches "Reich mir mal die Marmelade, Nutte" hinzufügen. Bis dahin haben uns die Zeiten eh geändert und wir sind so tolerant geworden, dass wir unsere Kinder freiwillig ins Gheddo fahren, wo wir mit ein paar Aggrofightern cokxxen. Das wird ein Spaß.

Sonntag, 18. April 2010

Denn wenn ein Staat stürzt...

Prag hat einen neuen Erzbischof. Die Information hat mich für einen Augenblick mit Schrecken zu dem Termin zurück versetzt, den ich in Speyer zur Berichterstattung übernommen habe, als Karl-Heinz Wiesemann die Leitung des Speyerer Bistums übernahm und ich als wohl einziges vom heiligen Weg abgekommenes Schäfchen der pathetischen Polonaise von Ministranten, Pfarrern, Diakonen und eben dem Bischof zusehen musste. Der Termin in Speyer bestätigte weitgehend meine Vorurteile darüber, dass es sich bei Neubesetzungen in der Kirche um sehr exklusive Veranstaltungen handelt, die auf Außenstehende aufgesetzt und für den weltlichen Geschmack etwas zu, nunja, schwülstig wirken. Auch wenn die Kirche den Anspruch erhebt, dass sich die breite Öffentlichkeit für die Vergabe hoher Positionen interessieren sollte, so geht es den meisten Bürgern und sogar den Vertretern der Politik in Wahrheit doch - polemisch gesagt - am Arsch vorbei, wer Sub-Chef einer gänzlich undurchsichtigen Institution ist.
Ausgerechnet in Tschechien, das als am meisten säkularisiertes Land Europas gilt, verhält sich das umgekehrt. Wo 60 Prozent der Bürger sich selbst als Atheisten bezeichnen, ist tatsächlich von öffentlichem Interesse, was die Kirche tut und wie sie ihre Positionen besetzt. Die Debatte, die zwischen der Stadt Prag und den katholischen Vertretern mit der Einsetzung des neuen Bistumsrepräsentanten aufgeflammt ist, versprüht fast schon einen Hauch von mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen Staat und Kirche. Wie sein Vorgänger will der neue Erzbischof, Dominik Duka, die Rückgabe der Eigentumsrechte des Prager Veitsdoms an die katholische Kirche durchsetzen. In den meisten postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas waren die unter der sowjetischen Herrschaft zwangsenteigneten Kirchenbesitze nach 1990 an den ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben worden. Nicht so der Veitsdom. Dass die Kommune ein großes Interesse daran hat, die Eigentumsrechte, so sie sie auch auf illegitime Art erhalten hat, zu behalten, ist nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar ist auch das Argument der Kirche, mit der Aufrechterhaltung des derzeitigen Eigentümerstatus würden die Zwangsenteignungen unter sowjetischer Gewalt gerechtfertigt. Mit Dutzenden Gegenbelegen könnte man der Kirche auf diesen Vorwurf entgegnen. Wäre ich ein in seiner Partei ungeliebtes Mitglied namens T***o S*****n, würde ich nun jede Menge unangemessener Vergleiche zu Überbleibseln aus sämtlichen deutschen Diktaturen ziehen. Von Eva Herrmann ganz zu schweigen. Vielleicht macht man es sich - selbst als Religionskritiker - aber zu leicht, wenn man auf die Prager Problematik mit dem Argument antwortet, in Deutschland habe man letzten Endes die Anzahl der Kindertagesstätten seit 1990 vervielfacht, obwohl die Institution ursprünglich vom Schurkenstaat DDR eingeführt worden war. Dieser Vergleich hinkt zugegebenermaßen, weil die KiTa als solche wohl eine der objektiv als am legitimsten einzustufenden Maßnahmen aus der gesamten DDR-Geschichte gelten kann. Wäre es nicht zu vermessen, könnte die katholische Kirche jedoch auf eine der Feststellungen Martin Luthers pochen: "Denn wenn ein Staat stürzt, stürzen auch seine Gesetze." Man sieht, die Protestanten täten sich wohl leichter mit apodiktischen Formeln zur Rückeroberung ihres Guts.
Trotz der lutheranischen Weisheit begibt sich die Kirche auf dünnes Eis, wenn sie Forderungen wie diese an den Staat stellt. Geschichte lehrt wenig. Was Institutionen aber aus ihr lernen könnten, wäre, dass sie manchmal besser damit bedient sind, bestehende Tatsachen ruhen zu lassen, selbst wenn diese aus einer unrechten Situation heraus entstanden sind. Unangenehm wäre doch etwa die Vorstellung, sämtliche sich unfair behandelt fühlende Staaten hätten irgendwann nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine gerechtere Verteilung der europäischen Grenzen gepocht. Die betroffenen Staaten haben - Gott sei Dank - eingesehen, dass Gerechtigkeit relativ ist. Vermutlich liegt aber genau hier der Knackpunkt: Weil die katholische Kirche Gerechtigkeit als absoluten Zustand betrachtet, erhebt sie Anspruch auf etwas, das wohl fast jede andere Einrichtung als längst verloren und vergessen erachtet hätte.
Man müsse die Situation um den Veitsdom im historischen Kontext betrachten, sagte Duka bei seiner Amtseinführung. Nun gut, betrachten wir auch die katholische Kirche einmal im historischen Kontext. Was unterscheidet sie wirklich von der sowjetischen Diktatur? Soweit ich sehen kann, vor allem eins: Der sowjetische Kommunismus unterdrückte Menschen für etwas weniger als 70 Jahre, die katholische Kirche ist für jahrhundertelange Greueltaten an Menschen verantwortlich. Solange die Kirche es nicht vermag, den Heiden ihre Religionsfreiheit zurückzugeben, die Opfer der Kreuzzüge wieder zum Leben zu erwecken und afrikanischen Aids-Infizierten, die in Folge dessen, was sie von katholischen Missionaren erzählt bekamen, keine Kondome benutzt haben, ihre Gesundheit wiederzugeben, sollte sie nicht mit verjährten Forderungen für negativen Aufruhr sorgen, den sie zur Wahrung ihres derzeitig schlechten Images ohnehin nicht nötig hat.

Donnerstag, 15. April 2010

Kafka lebt

"Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins." (Tagebücher, 1913)

Man stellt es sich ja so romantisch vor. Da sitzt Franz Kafka höchstpersönlich mit Bleistift und Papier in einem Café in der Prager Altstadt, nippt hin und wieder an seinem Kaffee, ab und an der Blick aus dem Fenster Richtung Karlsplatz oder Moldau. Wenn ihn in Folge des vielen Schreibens und hohen Papierverbrauchs die Geldsorgen heimsuchen, schreibt der junge Franz eben einen "Brief an den Vater", so soll der doch bitte aushelfen.
Wäre Kafka knapp 90 Jahre älter geworden, er hätte sich um Geld nie wieder Gedanken machen müssen. Sein Konterfei ziert Fenster, Türen, T-Shirts, Taschen, Kaffeetassen, ja, selbst vor Instantzuckertüten macht die literaturorientierte Werbeindustrie nicht Halt. Wer sich dann noch wagt, den Versuch zu unternehmen, die angeblichen Stammplätze zu zählen, die Kafka zu Lebzeiten in diversen Prager Cafés besessen haben soll, der kann nur zu einem Schluss kommen: Kafka war omnipräsent! Und er hatte Geldsorgen, weil er den lieben langen Tag nichts anderes tat als von einem Café zum nächsten zu sprinten, ein obligatorisches Getränk zu bestellen, um sich anschließend eine neue Bleibe zu suchen, damit Touristenführer Jahrzehnte später auf ein beliebiges Haus deuten und behaupten können, in diesem oder jenem habe damals Kafka gelebt. Wie dankbar muss die Stadt Prag doch dem alten Expressionisten für seine Paranoia sein, die ihn selbst leiden und innerhalb der Stadt ständig umziehen ließ! Es ist ja auch nicht so als gäbe es neben Kafka keine anderen nennenswerten (Wahl-)Prager, die etwas touristische Zuwendung verdient hätten. Max Brod gehört dazu, aber auch Rainer Maria Rilke, Franz Werfel und Friedrich Adler. Sie hätten sich möglicherweise sogar gefreut, hätte man ihnen zu Lebzeiten verraten, dass man ihnen nach ihrem Ableben ein Denkmal errichten würde. Kafka seinerseits, der allzeit Verschlossene, gegen dessen Willen sein Freund Brod zahlreiche Werke veröffentlichte - ob es ihm gefiele, wüsste er von seiner Rolle als intellektuelles Werbemuster Nummer Eins, ist zweifelhaft. Es entbehrt daher freilich nicht einer gewissen Ironie, dass nur wenige Meter neben einem "Kafka Bookshop", der Kafkas Bücher in allen erdenklichen Zuständen, Layouts und Übersetzungen feilbietet, im Shop eines Kunstmuseums PopArt-Bildbände und Warhol-Drucke verkauft werden. Ich habe mich heute gefragt, was für Andy Warhol typischer gewesen wäre: Kafka, der die gewerbemäßige Verbreitung seiner Persönlichkeit nie bezweckte, in einem seiner Porträts à la Marilyn Monroe zu verarbeiten, oder die Produkte, die durch dieses Gewerbe entstanden sind, selbst. Hiermit steht mein Beschluss, die mit Kafkas Silhouette bedruckten Zuckerpäckchen zu sammeln und sie als Hommage an Andy Warhol, der es leider nicht selbst tun konnte, zu einer großen Plakat-Collage zusammenzufügen.

Mittwoch, 14. April 2010

Prager Politikdebatten


Gestern erlebte ich die interessante Situation, in der Studenten schon vor Mitternacht ernsthaft über Politik distkutieren. Von der ursprünglich gemischten Gruppe blieb ein harter Kern, bestehend aus - einschließlich mir - zwei Deutschen, einem Niederländer und zwei Tschechen. Die Diskussion war entstanden, nachdem wir konsensual die kommunistische Diktatur unter sowjetischem Regime verurteilt und sowie uns auf die Demokratie als einzig akzeptable Staatsform geeinigt hatten. Während für die meisten von uns der Begriff des Sozialimus zumindest dahingehend wertfrei war, dass er und die Demokratie einander nicht ausschließen, vertrat einer der tschechischen Studenten vehement die Ansicht, nur im Kapitalismus könne die Demokratie verwirklicht werden. Nun ist diese Aussage natürlich aus einer subjektiven Einschätzung gewachsen, die sicherlich nicht die Haltung der Mehrheit der tschechischen Studenten wiederspiegelt. Dennoch beschäftigt mich seither die Begrifflichkeit von "Konservativismus" und "Liberalismus" in Tschechien. Anders als in Deutschland, so scheint es mir, gehören beide Bezeichnungen der politischen Rechten an, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im wertorientierten Sinne. Der derzeitige tschechische Präsident Václav Klaus sieht sich selbst als klassischen Liberalen, erntete aber von seinen Gegnern Empörung darüber, dass er ein Veto gegen den parlamentarischen Versuch, eine Gleichstellung von Homosexuellenpaaren mit heterosexuellen Ehen zu erreichen, einlegte. Für die deutsche Variante der klassischen Liberalen wäre das undenkbar! Im Zusammenhang mit ihren Wertvorstellungen würde man der FDP getrost einen Platz im linken Spektrum der politischen Links-Rechts-Skala einräumen. Im Gespräch mit mehreren Tschechen ist mir mittlerweile aufgefallen, wie sehr wir uns von dem, was wir eben kennen, geistig einschränken lassen - als wäre die Variante in unserem Kopf die einzige, die in Frage kommt. Dass dem so ist, fiel mir auf, nachdem mir in den vergangenen Tagen einige junge Tschechen sagten, sie seien politisch eher rechtsorientiert. Je nach Betonung würde sich bei der gleichen Aussage in Deutschland bei mir der Abwehrmodus bereit machen. In Tschechien hingegen, so ist mir mittlerweile klar geworden, ist "rechts" vielmehr gleichbedeutend mit "anti-kommunistisch" und zwar nicht im amerikanischen oder Adernauerschen Sinne, wie er während des Kalten Krieges vertreten wurde, sondern ganz konkret gegen die Tschechische Kommunistische Partei, die noch immer ordentliche 26 Sitze im Parlament inne hat - mehr als die Christdemokraten und noch viel mehr als die Grünen. Rechts bedeutet demnach weder, dass die jungen Vertreter dieser Richtung radikal wären, noch, dass sie den konservativen Václav Klaus unterstützten, dem immerhin vorgeworfen wird, trotz seiner bekennenden Anhängerschaft zu Ronald Reagan und Margaret Thatcher bei der vergangenen Präsidentschaftswahl einen Deal mit den Kommunisten eingegangen zu sein, der ihm auch die Stimmen der KSČM gesichert haben soll. Viele von ihnen lesen das politische Magazin "Respekt", das sie ebenfalls rechts einordnen, das aber - meinem bisherigen Eindruck nach - eines der Vorzeigejournale des investigativen Journalismus ist. Unter anderen Umständen würde man "Respekt", das mit der Aufdeckung von Korruptionsfällen, genauso aber mit Reportagen über Massaker an der Roma-Minderheit und der Vertreibung von Sudetendeutschen in der Vergangenheit für Aufsehen gesorgt hat, mit dem "Spiegel" vergleichen. Nur bedeutet investigativer Journalismus in der postkommunistischen tschechischen Republik eben etwas anderes: Er ist möglich, wie er es jahrzehntelang unter der kommunistischen Diktatur nicht war. Dass die jungen Leser des "Respekt" die Pressefreiheit so hochschätzen und ihnen so viel daran liegt, sie aufrecht zu erhalten, ist einerseits überaus erfreulich. Ich habe in Deutschland - abgesehen von wenigen ernsthaften Gesprächen unter Politologen - nie erlebt, dass Studenten sich fernab von Stammtischniveau in der Kneipe so leidenschaftlich und souverän über Politik unterhalten hätten. Der politischen Kultur innerhalb der jungen Generationen kann das nur zuträglich sein. Oder? Der Nachteil dieser passionierten Vertretung der Pressefreiheit besteht darin, dass sie die Wirkung eines Privilegs erhält und nicht die einer Selbstverständlichkeit, die sie eigentlich sein sollte. Man sollte die ehemals kommunistischen Diktaturen Ost- und Mitteleuropas eines weiteren Vorwurfs anklagen: Ihretwegen hegt eine ganze Generation junger Tschechen nicht nur ein misstrauisches Verhältnis gegenüber den Politikern (das wäre normal und gut). Wirklich traurig ist, dass diese Generation auch eine Skepsis gegenüber dem Fortbestand der Demokratie verspürt.

Donnerstag, 25. März 2010

Zwischen den Zeilen.

"Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht." (William Shakespeare)

Wenn ich mich früher durch das Verzeichnis der ZEIT-Redakteure blätterte, die in ihrer Kurzvita erklärten, welche persönliche Bedeutung DIE ZEIT von jeher für sie hatte, verspürte ich vor allem Neid. - Neid auf das bürgerliche Elternhaus, in dem man beheimatet gewesen sein muss, um das ZEIT-Magazin aus dem Briefkasten zu stehlen, bevor die Eltern den kompletten Stapel an Papier unter sich verteilen konnten -Neid darauf, die Inhalte als dem Stil überlegenes Qualitätsmerkmal erkennen zu können - Neid auf den frühen Zugang zu investigativ recherchierten Informationen sowie deren Verständnis.
Vergangene Woche veröffentlichte DIE ZEIT ein umfassendes Porträt des unzugänglichen Barons zu Guttenberg, dessen Autorin eine interessante Feststellung machte. Wie viel Genugtuung am persönlichen Erfolg, fragte sie, könne ein deutscher Aristokrat überhaupt empfinden, wo ihm doch seine Herkunft den Weg zur steilen Karriere bereits geebnet habe. Guttenberg könne doch allenfalls stolz darauf sein, es genauso weit geschafft zu haben wie sein Großvater.
Es amüsiert mich, die ich klassendefinitorisch nicht als Angehörige des Bürgertums gelte, in solchen Situationen, dass gerade seine Repräsentanten eine so kluge gesellschaftspsychologische Beobachtungsgabe aufweisen, wenn es um die Gefangenschaft der Angehörigen anderer gesellschaftlicher Milieus in ihren Verhältnissen geht: Den Aristokraten bleiben infolge dieser Argumentationslogik Mobilitätschancen naturgemäß versagt, weil der gesellschaftliche Aufzug nun mal nicht höher fährt - bemitleidenswerterweise - und den Vertretern der unteren Schichten ist es neben sozialtraditionellen Gründen schon deshalb kaum möglich, einen Ausstieg aus ihrer Klasse zu schaffen, weil ihr familiärer Hintergrund das nicht vorsieht. Die Exklusivität ihres eigenen Gesellschaftskreises scheint der so genannten Mittelschicht gar nicht aufzufallen. Sie bemüht sich so sehr, Auf- und Abstiegsstatistiken der Anderen zu analysieren, dass sie für sich selbst nur noch Mitleid übrig hat. Selbstverständlich ist es für die Bürgerlichen schwer, die Klasse zu wechseln: In die untere Richtung wäre das regelrecht eine klassische Katastrophe; nach oben ist der Sprung quasi unmöglich, es sei denn man erheiratet sich einen Titel.
Einen Baron zu bemitleiden, weil er es gar nicht schaffen kann, es weiter zu bringen als seine Vorfahren, ist zwar ehrenwert, schlägt doch aber fehl für jemanden, der sich in der Hierarchie der Berufe wahrscheinlich genauso unweit von der Position seiner Eltern entfernt hat wie ein Adeliger das könnte.
Es gibt keinen Grund, sich für eine traditionsreiche Familie zu schämen. Unternehmerkinder tun es, wenn sie einen Familienbetrieb in der fünften Generation fortführen; Menschen mit Migrationshintergrund, wenn sie ihre Kinder zweisprachig erziehen und jeder, der sich auch im Erwachsenenleben noch mit Frohsinn an das ZEIT-Abo der Eltern erinnert, tut es auch. Den Stolz eines Adeligen auf seinen Stammbaum ins Lächerliche zu ziehen, darauf scheint so mancher Journalist - und davon abgesehen auch Stammtischredner, Politiker oder sonstiger Besserwisser - dennoch ganz versessen zu sein. Das Problem daran sehe ich nicht in der psychologischen Theoretisierung des Charakters zu Guttenberg, die aus einer so gehaltenen Porträtierung spricht, sondern in der Unterschätzung des Individuellen, zu dem - so sollte man meinen - auch Aristokraten fähig sein dürften. Wer glaubt, nur weil er in die "Fußstapfen" seiner Großväter tritt, nehme er seine Funktion weniger ernst als jemand, dessen Großvater Schreiner statt Politiker war, spricht demjenigen nicht nur das Vermögen ab, sich von seiner Familie zu emanzipieren, sondern würde in der Schlussfolgerung auch bedeuten, dass ein Schreinerenkel weniger stolz auf seinen Familienhintergrund sein müsste als ein bayerischer Großgrundbesitzer. Wenn so sehr auf Herkunftsfaktoren gepocht wird wie bei Karl-Theodor zu Guttenberg, geht das Analysebild der eigentlichen Persönlichkeit verloren. Jeder Bürgerliche würde sich über eine solche Porträtierung seiner selbst ärgern.