Dienstag, 27. April 2010

Nationalhelden

Ich habe die schlechte Angewohnheit, Denkmälern, die als Mittelpunkt großer Plätze gedacht sind, wenig Beachtung zu schenken. Meistens nehme ich die Personen, derer mit der jeweiligen Statue gedacht werden soll, nicht einmal wahr. Als ich vor kurzem gefragt wurde, was ich von dem Jan-Hus-Denkmal auf dem Prager Altstadtring halte, musste ich daher erst einmal passen. Zu meiner Verteidigung sei betont, dass besagtes Denkmal eine magnetische Wirkung auf Touristen zu haben scheint - undenkbar, dem Kunstwerk mehr als fünf Meter nahe zu kommen, ohne dass man dabei einem Amateurfotografen und seinem posierenden Model im Weg stünde.
Einmal auf die Würdigung Jan Hus' auf dem wichtigsten Prager Platz aufmerksam gemacht, begann ich aber, die Tatsache an sich interessant zu finden, dass dem mittelalterlichen Reformer ausgerechnet im säkularen Tschechien eine so große Bedeutung beigemessen wird.
Die erste einigermaßen witzige Beobachtung, die man jeglichen Plastiken Jan Hus' gegenüber machen muss, besteht darin, dass es vollends unbekannt ist, wie der Begründer des Hussitentums ausgesehen hat. Das bekannteste Porträt Jan Hus' stammt aus den Pinselstrichen eines unbekannten Malers des 16. Jahrhunderts und ist genauso sehr Phantasieprodukt wie das Denkmal auf dem Altstädter Ring. Der andere Punkt, über den man sich wundern kann, ist die Würdigung eines prelutheranischen Reformators, der bis jetzt trotz einer solchen Empfehlung des ehemaligen Prager Erzbischofs Miroslav Vlk an den Vatikan keine Rehabilitierung von der katholischen Kirche erfahren hat, die ihn 1415 auf dem Kostanzer Konzil hinrichten ließ und die immerhin als einzige Kirche in der Tschechischen Republik überhaupt eine Rolle spielt. Nur 2,3 Prozent der tschechischen Bevölkerung ist protestantisch; trotzdem genießt Jan Hus in der ganzen Bevölkerung einen Ruf als Befreier der Nation.
Als ich vergangene Woche mit Freunden einen Ausflug ins südböhmische Tábor machte, entdeckten wir vor Ort das "Jan-Hus-Museum" und zeigten uns allesamt überrascht darüber, wie viele Städte der immerhin im Alter von 45 Jahren Hingerichtete in seinem kurzen Leben bereist haben sollte. Bei der nachträglichen Recherche stellte ich enttäuschenderweise fest, dass Jan Hus tatsächlich niemals in Tábor gewesen war; lediglich seine radikalen Anhänger waren 1420 auf die im heutigen Tábor gelegene Festung Kotnov gezogen, um dort einen Gottesstaat zu errichten. Als Aushängeschild für Touristenbesuche eignet er sich trotzdem: Als wir in dem Táborer Museum nachfragten, ob die Stadt viele ausländische Gäste empfange, donnerte uns ein "selbstverständlich" entgegen und wir wurden auf die historische Bedeutung Jan Hus' aufmerksam gemacht, über den man sich im gleichnamigen Museum schließlich ausführlich informieren könne. Warum sich der aufmüpfige Rektor der Karlsuniversität aber den Status des Volksbefreiers erworben hat und heute als Nationalheld gefeiert wird, beantworten auch die ausführlichen Informationstafeln nicht. Da wird freilich der mittelalterliche Konflikt zwischen Weltlich- und Geistlichkeit aufgeführt; wie das aber zur politischen Rolle eines Prager Priesters und Universitätsrektors passt und warum dessen Lebensende im Zusammenhang mit dem ersten Prager Fenstersturz steht - das bleibt irgendwo zwischen den Zeilen verborgen.
Niemand will Jan Hus absprechen, ein tschechisches Nationalbewusstsein aus der Taufe gehoben und dem Königreich Böhmen zu seiner Eigenständigkeit verholfen zu haben. Wie viel ehrliche Anerkennung steckt aber hinter seiner Denkmalsetzung, wenn nicht einmal das Museum, das sich angesichts seines Namens eigentlich ausschließlich mit diesem Thema befassen sollte, erklärt, warum er als zentrale politische Figur Böhmens gefeiert wird?

Freitag, 23. April 2010

Prager Melodien

Prag ist ein Ort für Musikliebhaber. Wer hier durch die Altstadt flaniert, dem klingen pausenlos Melodien in den Ohren - wenn nicht von den Instrumenten, auf denen die zahlreichen Straßenmusikanten spielen, dann zumindest von den romantischen Sinfonien oder dem entspanntem Dixieland, die man beim Anblick von mittelalterlichen Bauten einerseits und jugendstilistisch verzierten Fassaden andererseits halbautomatisch assoziiert.
Musik wirkt auch als ein Mittel der Begegnung. Die Bourbon Street Ramblers, die - mal auf der Karlsbrücke, mal auf dem Altstädter Ring - Straßenswing auf hohem Niveau machen, begeistern Touristen und die Einwohner Prags gleichermaßen.
Generationen spielen keine Rolle mehr, wenn auf den Bühnen der großen Festivals die besten Künstler ihres Genres auftreten: Im Mai und Juni gastieren rund um Rudolfinum und Smetana-Saal große Dirigenten, Orchester und Symphonien beim Prager Frühling. Unter den Zuschauern wird man dort Konstellationen antreffen, die nur auf besonderen Anlässen üblich sind: Töchter begleiten ihre Väter dorthin, Angestellte leisten ihren Chefs Gesellschaft und Freunde aus Vinohrady treffen sich dort mit ihren Bekannten aus Smichov. Kurzum: Musik ist das Verbindungsglied der Bürger Prags.
Vergangene Woche stellte mir ein tschechischer Student eine Frage, die mich zum Nachdenken brachte: "Wer ist der deutsche Bob Dylan?", wollte er wissen, und konkretisierte: "Gibt es einen Sänger, den jeder in Deutschland mag?" Nach einem Augenblick, in dem ich nach einer ernsthaften Antwort auf diese Frage suchte, hakte er nach: "Vielleicht Hansi Hinterseer?" Selbstverständlich brach ich auf Anhieb in einen Zustand aus, der irgendwo zwischen Lachtränen und Empörung lag. Erst als ich merkte, dass es meinem Gesprächsparner mit der letzten Frage ernst gewesen war, gesellte sich zu meinem Amüsement der ehrliche Schock. Was für ein Bild haben unsere Nachbarn bloß von uns?! Ich bin versucht, Herrn Hinterseer persönlich die Schuld an diesem Image zu geben; seine ledigliche Existenz erklärt aber leider noch lange nicht, warum ein gewisser Anteil meiner Landsleute tatsächlich - und das auch noch freiwillig - seinem allzeit fröhlichen Geträller lauscht.
Die Unterhaltung mit dem interessierten tschechischen Studenten jedenfalls hat mich gelehrt: Die Qualität von "Volksmusik" ist eine Frage der Definition. Wenn ein Prager von seinem Lieblingsvolkssänger erzählt, begeht man einen Fehler, wenn man ihn wegen dieser Geschmacksbekundung in eine Schublade steckt, in die es von all unseren Bekannten bislang vielleicht allenfalls unsere Großeltern geschafft haben. "Volksmusik" ist in Tschechien das, was man in Deutschland als guten Folk bezeichnen würde. Und es gibt hier populäre Vertreter dieses Genres, die altersgrenzenüberschreitend als Könner ihres Fachs anerkannt sind. Würde man einen Tschechen nach dem "Bob Dylan" seines Landes fragen, ihm würden vermutlich zwei Namen einfallen: Da ist Jaromír Nohavica, der sich auch über die Republik hinaus einen Namen gemacht hat und der musikalisch wohl Leonard Cohen noch näher steht als Bob Dylan. Zum anderen würde wahrscheinlich der Name Karel Plíhals fallen, der - wie die Gäste im Musikantenstadl - in der Regel vor sitzendem Publikum auftritt, mit dem Unterschied, dass er eine Gitarre zu betätigen weiß und außerdem eine schöne Stimme hat, mit der er über Weltbewegenderes singt als darüber, wie schön der Tag mit Hansi gewesen ist.
Mir ist immer noch kein Künstler eingefallen, der in Hinsicht auf seine Beliebtheitswerte oder wenigstens auf seinen musikalischen Einfluss in Deutschland mit Bob Dylan verglichen werden könnte (erhellende Vorschläge nehme ich entgegen).
Allzu gern würde ich mich darin wähnen, meine Nationalität wenigstens mit den größten Komponisten der Vergangenheit zu teilen. Dann aber stelle ich fest, dass selbst jene - man denke nur an Beethoven oder Händel - die Flucht aus ihrem Vaterland ergriffen haben, um in anderen Gefilden nach künstlerischer Inspiration zu suchen. Mit Musik kann man als Deutsche in Tschechien keinen Staat gewinnen *). Dafür darf man hier im Alltag eine Auswahl an musikalischer Qualität genießen, von der man zu Hause nur träumen kann.

*) Ich bitte um Verzeihung für diesen Witz.

Dienstag, 20. April 2010

The Times They Are A-Changing

Das Prinzip tschechischen Humors ist überaus sympathisch. Wer eine lustige Geschichte zum Besten geben will, so wird empfohlen, der soll von einer peinlichen Angelegenheit berichten - selbstverständlich vorausgesetzt, bei dem Verursacher der Peinlichkeit handelt es sich um den Erzähler persönlich. Um meine Integrationsbereitschaft in die tschechische Mentalität zu signalisieren, möchte ich nun also eine Peinlichkeit gestehen. Ich habe heute an Bushido gedacht (den Gangster-Rapper, nicht den Vehaltenskodex der Samurai). Es widerspricht dem originalgetreuen tschechischen Humorverständnis, Mitleid zu erwecken und den Gesprächspartner damit milde zu stimmen, sodass ich auf einen langatmigen Rechtfertigungsversuch dieses Gedankens verzichte.
Im Zuge meines Gedankengangs jedenfalls erinnerte ich mich an den Filmtitel der Bushido-Autobiographie "Zeiten ändern Dich" und machte eine schockierende Feststellung: Übersetzt man den Filmtitel ins Englische - was, ich hoffe es inständigst, in der Kinowelt noch nicht geschehen ist - gleicht er fast dem Namen eines Albums von Bob Dylan. "The Times They Are A-Changing" zählt meiner Ansicht nach zu den besten Studio-Alben des 20. Jahrhunderts. Schlimm genug, dass sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Aussage des Bushido-Films und der Bob-Dylan-Platte kaum verleugnen lässt (es ist mir bewusst, dass ich ein Hausverbot in allen Konzerthallen, in denen Bob Dylan jemals aufgetreten ist, für diesen Vergleich verdient hätte). Noch schlimmer erscheint mir, dass Bushido sich selbst als gesellschaftskritischer Barde der Nation fühlen könnte. Es ist noch nicht so lange her, dass Bushido zu Gast bei Johannes B. Kerner war - und ja, trotz der streitbaren Qualität der Talkrunde noch im ZDF - und dort mit einer Vertreterin der Hamburger CDU über Politik diskutierte. Man muss sich dieselbe Situation vor 45 Jahren vorstellen. Es ist die Zeit kurz vor Woodstock und Bob Dylan oder ein vergleichbarer anderer Vertreter der 68-Generation hat einen Auftritt in einer renommierten Fernsehshow. Damals schimpften die Eltern der Dylan/Joplin/Lennon-Anhänger, die so altklug die Verfehlungen von Politik und Gesellschaft anprangerten, über die moderne Musik und die ganze Hippie-Kultur auf dieselbe Art, in der wir es heute über Bushido tun. Was aber, wenn unsere Kinder und Enkel in ein paar Jahrzehnten Bushido als den Songwriter feiern, der die Musik revolutioniert hat und er zu dem Helden wird, der es gewagt hat, die Tabus der Konservativen zu brechen? Wenn aus Hippietum Hip-Hop-Tum wird? Was, wenn sie uns vorwerfen, das Genie in Bushido verkannt zu haben und sein Grab zum nationalen Heiligtum ernennen? (Vorsichtshalber habe ich es geprüft: Bushido wird es immerhin nicht schaffen, in den glorreichen "Club of 27" einzutreten).
Bob Dylan hat es 1964 ja schon angekündigt: "The Times They Are A-Changing"; Bushido hat die daraus vielleicht einzig richtige Schlussfolgerung gezogen. Die Zeiten ändern nicht nur sich, sondern auch Dich. Das bedeutet immerhin, dass es uns nicht gänzlich vom Hocker hauen wird, wenn unsere Kinder Sonntags morgens am Frühstückstisch von Drogen, Sex und Gangbang der vergangenen Nacht berichten und dem vielleicht noch ein freundliches "Reich mir mal die Marmelade, Nutte" hinzufügen. Bis dahin haben uns die Zeiten eh geändert und wir sind so tolerant geworden, dass wir unsere Kinder freiwillig ins Gheddo fahren, wo wir mit ein paar Aggrofightern cokxxen. Das wird ein Spaß.

Sonntag, 18. April 2010

Denn wenn ein Staat stürzt...

Prag hat einen neuen Erzbischof. Die Information hat mich für einen Augenblick mit Schrecken zu dem Termin zurück versetzt, den ich in Speyer zur Berichterstattung übernommen habe, als Karl-Heinz Wiesemann die Leitung des Speyerer Bistums übernahm und ich als wohl einziges vom heiligen Weg abgekommenes Schäfchen der pathetischen Polonaise von Ministranten, Pfarrern, Diakonen und eben dem Bischof zusehen musste. Der Termin in Speyer bestätigte weitgehend meine Vorurteile darüber, dass es sich bei Neubesetzungen in der Kirche um sehr exklusive Veranstaltungen handelt, die auf Außenstehende aufgesetzt und für den weltlichen Geschmack etwas zu, nunja, schwülstig wirken. Auch wenn die Kirche den Anspruch erhebt, dass sich die breite Öffentlichkeit für die Vergabe hoher Positionen interessieren sollte, so geht es den meisten Bürgern und sogar den Vertretern der Politik in Wahrheit doch - polemisch gesagt - am Arsch vorbei, wer Sub-Chef einer gänzlich undurchsichtigen Institution ist.
Ausgerechnet in Tschechien, das als am meisten säkularisiertes Land Europas gilt, verhält sich das umgekehrt. Wo 60 Prozent der Bürger sich selbst als Atheisten bezeichnen, ist tatsächlich von öffentlichem Interesse, was die Kirche tut und wie sie ihre Positionen besetzt. Die Debatte, die zwischen der Stadt Prag und den katholischen Vertretern mit der Einsetzung des neuen Bistumsrepräsentanten aufgeflammt ist, versprüht fast schon einen Hauch von mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen Staat und Kirche. Wie sein Vorgänger will der neue Erzbischof, Dominik Duka, die Rückgabe der Eigentumsrechte des Prager Veitsdoms an die katholische Kirche durchsetzen. In den meisten postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas waren die unter der sowjetischen Herrschaft zwangsenteigneten Kirchenbesitze nach 1990 an den ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben worden. Nicht so der Veitsdom. Dass die Kommune ein großes Interesse daran hat, die Eigentumsrechte, so sie sie auch auf illegitime Art erhalten hat, zu behalten, ist nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar ist auch das Argument der Kirche, mit der Aufrechterhaltung des derzeitigen Eigentümerstatus würden die Zwangsenteignungen unter sowjetischer Gewalt gerechtfertigt. Mit Dutzenden Gegenbelegen könnte man der Kirche auf diesen Vorwurf entgegnen. Wäre ich ein in seiner Partei ungeliebtes Mitglied namens T***o S*****n, würde ich nun jede Menge unangemessener Vergleiche zu Überbleibseln aus sämtlichen deutschen Diktaturen ziehen. Von Eva Herrmann ganz zu schweigen. Vielleicht macht man es sich - selbst als Religionskritiker - aber zu leicht, wenn man auf die Prager Problematik mit dem Argument antwortet, in Deutschland habe man letzten Endes die Anzahl der Kindertagesstätten seit 1990 vervielfacht, obwohl die Institution ursprünglich vom Schurkenstaat DDR eingeführt worden war. Dieser Vergleich hinkt zugegebenermaßen, weil die KiTa als solche wohl eine der objektiv als am legitimsten einzustufenden Maßnahmen aus der gesamten DDR-Geschichte gelten kann. Wäre es nicht zu vermessen, könnte die katholische Kirche jedoch auf eine der Feststellungen Martin Luthers pochen: "Denn wenn ein Staat stürzt, stürzen auch seine Gesetze." Man sieht, die Protestanten täten sich wohl leichter mit apodiktischen Formeln zur Rückeroberung ihres Guts.
Trotz der lutheranischen Weisheit begibt sich die Kirche auf dünnes Eis, wenn sie Forderungen wie diese an den Staat stellt. Geschichte lehrt wenig. Was Institutionen aber aus ihr lernen könnten, wäre, dass sie manchmal besser damit bedient sind, bestehende Tatsachen ruhen zu lassen, selbst wenn diese aus einer unrechten Situation heraus entstanden sind. Unangenehm wäre doch etwa die Vorstellung, sämtliche sich unfair behandelt fühlende Staaten hätten irgendwann nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf eine gerechtere Verteilung der europäischen Grenzen gepocht. Die betroffenen Staaten haben - Gott sei Dank - eingesehen, dass Gerechtigkeit relativ ist. Vermutlich liegt aber genau hier der Knackpunkt: Weil die katholische Kirche Gerechtigkeit als absoluten Zustand betrachtet, erhebt sie Anspruch auf etwas, das wohl fast jede andere Einrichtung als längst verloren und vergessen erachtet hätte.
Man müsse die Situation um den Veitsdom im historischen Kontext betrachten, sagte Duka bei seiner Amtseinführung. Nun gut, betrachten wir auch die katholische Kirche einmal im historischen Kontext. Was unterscheidet sie wirklich von der sowjetischen Diktatur? Soweit ich sehen kann, vor allem eins: Der sowjetische Kommunismus unterdrückte Menschen für etwas weniger als 70 Jahre, die katholische Kirche ist für jahrhundertelange Greueltaten an Menschen verantwortlich. Solange die Kirche es nicht vermag, den Heiden ihre Religionsfreiheit zurückzugeben, die Opfer der Kreuzzüge wieder zum Leben zu erwecken und afrikanischen Aids-Infizierten, die in Folge dessen, was sie von katholischen Missionaren erzählt bekamen, keine Kondome benutzt haben, ihre Gesundheit wiederzugeben, sollte sie nicht mit verjährten Forderungen für negativen Aufruhr sorgen, den sie zur Wahrung ihres derzeitig schlechten Images ohnehin nicht nötig hat.

Donnerstag, 15. April 2010

Kafka lebt

"Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins." (Tagebücher, 1913)

Man stellt es sich ja so romantisch vor. Da sitzt Franz Kafka höchstpersönlich mit Bleistift und Papier in einem Café in der Prager Altstadt, nippt hin und wieder an seinem Kaffee, ab und an der Blick aus dem Fenster Richtung Karlsplatz oder Moldau. Wenn ihn in Folge des vielen Schreibens und hohen Papierverbrauchs die Geldsorgen heimsuchen, schreibt der junge Franz eben einen "Brief an den Vater", so soll der doch bitte aushelfen.
Wäre Kafka knapp 90 Jahre älter geworden, er hätte sich um Geld nie wieder Gedanken machen müssen. Sein Konterfei ziert Fenster, Türen, T-Shirts, Taschen, Kaffeetassen, ja, selbst vor Instantzuckertüten macht die literaturorientierte Werbeindustrie nicht Halt. Wer sich dann noch wagt, den Versuch zu unternehmen, die angeblichen Stammplätze zu zählen, die Kafka zu Lebzeiten in diversen Prager Cafés besessen haben soll, der kann nur zu einem Schluss kommen: Kafka war omnipräsent! Und er hatte Geldsorgen, weil er den lieben langen Tag nichts anderes tat als von einem Café zum nächsten zu sprinten, ein obligatorisches Getränk zu bestellen, um sich anschließend eine neue Bleibe zu suchen, damit Touristenführer Jahrzehnte später auf ein beliebiges Haus deuten und behaupten können, in diesem oder jenem habe damals Kafka gelebt. Wie dankbar muss die Stadt Prag doch dem alten Expressionisten für seine Paranoia sein, die ihn selbst leiden und innerhalb der Stadt ständig umziehen ließ! Es ist ja auch nicht so als gäbe es neben Kafka keine anderen nennenswerten (Wahl-)Prager, die etwas touristische Zuwendung verdient hätten. Max Brod gehört dazu, aber auch Rainer Maria Rilke, Franz Werfel und Friedrich Adler. Sie hätten sich möglicherweise sogar gefreut, hätte man ihnen zu Lebzeiten verraten, dass man ihnen nach ihrem Ableben ein Denkmal errichten würde. Kafka seinerseits, der allzeit Verschlossene, gegen dessen Willen sein Freund Brod zahlreiche Werke veröffentlichte - ob es ihm gefiele, wüsste er von seiner Rolle als intellektuelles Werbemuster Nummer Eins, ist zweifelhaft. Es entbehrt daher freilich nicht einer gewissen Ironie, dass nur wenige Meter neben einem "Kafka Bookshop", der Kafkas Bücher in allen erdenklichen Zuständen, Layouts und Übersetzungen feilbietet, im Shop eines Kunstmuseums PopArt-Bildbände und Warhol-Drucke verkauft werden. Ich habe mich heute gefragt, was für Andy Warhol typischer gewesen wäre: Kafka, der die gewerbemäßige Verbreitung seiner Persönlichkeit nie bezweckte, in einem seiner Porträts à la Marilyn Monroe zu verarbeiten, oder die Produkte, die durch dieses Gewerbe entstanden sind, selbst. Hiermit steht mein Beschluss, die mit Kafkas Silhouette bedruckten Zuckerpäckchen zu sammeln und sie als Hommage an Andy Warhol, der es leider nicht selbst tun konnte, zu einer großen Plakat-Collage zusammenzufügen.

Mittwoch, 14. April 2010

Prager Politikdebatten


Gestern erlebte ich die interessante Situation, in der Studenten schon vor Mitternacht ernsthaft über Politik distkutieren. Von der ursprünglich gemischten Gruppe blieb ein harter Kern, bestehend aus - einschließlich mir - zwei Deutschen, einem Niederländer und zwei Tschechen. Die Diskussion war entstanden, nachdem wir konsensual die kommunistische Diktatur unter sowjetischem Regime verurteilt und sowie uns auf die Demokratie als einzig akzeptable Staatsform geeinigt hatten. Während für die meisten von uns der Begriff des Sozialimus zumindest dahingehend wertfrei war, dass er und die Demokratie einander nicht ausschließen, vertrat einer der tschechischen Studenten vehement die Ansicht, nur im Kapitalismus könne die Demokratie verwirklicht werden. Nun ist diese Aussage natürlich aus einer subjektiven Einschätzung gewachsen, die sicherlich nicht die Haltung der Mehrheit der tschechischen Studenten wiederspiegelt. Dennoch beschäftigt mich seither die Begrifflichkeit von "Konservativismus" und "Liberalismus" in Tschechien. Anders als in Deutschland, so scheint es mir, gehören beide Bezeichnungen der politischen Rechten an, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im wertorientierten Sinne. Der derzeitige tschechische Präsident Václav Klaus sieht sich selbst als klassischen Liberalen, erntete aber von seinen Gegnern Empörung darüber, dass er ein Veto gegen den parlamentarischen Versuch, eine Gleichstellung von Homosexuellenpaaren mit heterosexuellen Ehen zu erreichen, einlegte. Für die deutsche Variante der klassischen Liberalen wäre das undenkbar! Im Zusammenhang mit ihren Wertvorstellungen würde man der FDP getrost einen Platz im linken Spektrum der politischen Links-Rechts-Skala einräumen. Im Gespräch mit mehreren Tschechen ist mir mittlerweile aufgefallen, wie sehr wir uns von dem, was wir eben kennen, geistig einschränken lassen - als wäre die Variante in unserem Kopf die einzige, die in Frage kommt. Dass dem so ist, fiel mir auf, nachdem mir in den vergangenen Tagen einige junge Tschechen sagten, sie seien politisch eher rechtsorientiert. Je nach Betonung würde sich bei der gleichen Aussage in Deutschland bei mir der Abwehrmodus bereit machen. In Tschechien hingegen, so ist mir mittlerweile klar geworden, ist "rechts" vielmehr gleichbedeutend mit "anti-kommunistisch" und zwar nicht im amerikanischen oder Adernauerschen Sinne, wie er während des Kalten Krieges vertreten wurde, sondern ganz konkret gegen die Tschechische Kommunistische Partei, die noch immer ordentliche 26 Sitze im Parlament inne hat - mehr als die Christdemokraten und noch viel mehr als die Grünen. Rechts bedeutet demnach weder, dass die jungen Vertreter dieser Richtung radikal wären, noch, dass sie den konservativen Václav Klaus unterstützten, dem immerhin vorgeworfen wird, trotz seiner bekennenden Anhängerschaft zu Ronald Reagan und Margaret Thatcher bei der vergangenen Präsidentschaftswahl einen Deal mit den Kommunisten eingegangen zu sein, der ihm auch die Stimmen der KSČM gesichert haben soll. Viele von ihnen lesen das politische Magazin "Respekt", das sie ebenfalls rechts einordnen, das aber - meinem bisherigen Eindruck nach - eines der Vorzeigejournale des investigativen Journalismus ist. Unter anderen Umständen würde man "Respekt", das mit der Aufdeckung von Korruptionsfällen, genauso aber mit Reportagen über Massaker an der Roma-Minderheit und der Vertreibung von Sudetendeutschen in der Vergangenheit für Aufsehen gesorgt hat, mit dem "Spiegel" vergleichen. Nur bedeutet investigativer Journalismus in der postkommunistischen tschechischen Republik eben etwas anderes: Er ist möglich, wie er es jahrzehntelang unter der kommunistischen Diktatur nicht war. Dass die jungen Leser des "Respekt" die Pressefreiheit so hochschätzen und ihnen so viel daran liegt, sie aufrecht zu erhalten, ist einerseits überaus erfreulich. Ich habe in Deutschland - abgesehen von wenigen ernsthaften Gesprächen unter Politologen - nie erlebt, dass Studenten sich fernab von Stammtischniveau in der Kneipe so leidenschaftlich und souverän über Politik unterhalten hätten. Der politischen Kultur innerhalb der jungen Generationen kann das nur zuträglich sein. Oder? Der Nachteil dieser passionierten Vertretung der Pressefreiheit besteht darin, dass sie die Wirkung eines Privilegs erhält und nicht die einer Selbstverständlichkeit, die sie eigentlich sein sollte. Man sollte die ehemals kommunistischen Diktaturen Ost- und Mitteleuropas eines weiteren Vorwurfs anklagen: Ihretwegen hegt eine ganze Generation junger Tschechen nicht nur ein misstrauisches Verhältnis gegenüber den Politikern (das wäre normal und gut). Wirklich traurig ist, dass diese Generation auch eine Skepsis gegenüber dem Fortbestand der Demokratie verspürt.