Donnerstag, 10. Februar 2011

Nostalgie

Neulich habe ich von Erich Kästner geträumt. In meinem Traum saß Erich Kästner auf dem Gipfel eines sehr spitzen Eisbergs und tippte auf einer Laptop-Tastatur. Vom Laptop abgesehen habe ich mir Erich Kästner als Kind immer genauso vorgestellt; Wind und Wetter trotzend, fleißig und einsam schreibend mitten im Gebirge. Das Bild entstand, nachdem ich das Vorwort des "fliegenden Klassenzimmers" gelesen hatte, in dem Kästner beschreibt, wie es zu der Geschichte kam. Kästners Mutter soll ihn mitten im Sommer gebeten haben, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, woraufhin sich der junge Schriftsteller entschloss, auf die Zugspitze zu fahren, um sich in winterliche Stimmung zu versetzen.

Die Geschichte um das "fliegende Klassenzimmer" war die erste, die mir bewusst machte, dass Realität und Fiktion viel näher beisammen liegen als man meint, und dass Literatur nur authentisch ist, wenn ein Teil von ihr auch selbsterlebt ist.
Ich schreibe zugegebenerweise keine Literatur. Trotzdem geht es mir gerade ähnlich wie Erich Kästner. Über einen Ort zu schreiben, an dem man sich nicht befindet, ist eigentlich unmöglich.*

Ich war diese Woche in Prag, vier Tage. Alles war so unverändert und doch so anders. Es fühlt sich komisch an, provisorisch in einer Stadt zu sein, die einem eigentlich wie die eigene Heimat vorkommt. Und von allen als Besucher anstatt als Bewohner behandelt zu werden.
Überhaupt ist ja die Sehnsucht nach geographisch entlegenen Orten schon skurril. Ich weiß genau, wie der Námestí Jirího z Podebrad aussieht, ich kann ihn mir in diesem Moment im Detail vorstellen. Ich muss nicht dort sein, um exakt zu wissen, welche Farben die Häuser am Straßenrand haben, in welcher Entfernung der Fernsehturm über der Hausnummer Neun hervorlugt und wie viele Parkbänke zwischen der Kirche und dem Eingang zur Metrostation stehen.
Trotzdem war meine Ankunft dort am Sonntag über alle Maßen beflügelnd.

Es war halt wie überall, wo man schöne Erfahrungen gemacht hat. Man läuft einen Weg entlang und erinnert sich an vergangene Zeiten und an das, was man mit diesem Weg verbindet. So detailreich, wie die Erinnerung an diesem Ort wiederkehrt, schafft die Vorstellungskraft die Erinnerung dann doch nicht.

Nach vier Tagen habe ich Prag mit den ambivalenten Gefühlen, die ich (allerdings aus anderen Gründen) schon bei der Ankunft hatte, verlassen. Nur war diesmal die Angst größer, nach Prag nur noch zum Erinnern zu kommen, nicht mehr zum Erleben.

*Ich bin ja nicht Karl May.

Freitag, 20. August 2010

Praha

http://www.youtube.com/watch?v=z8OLb1DK9HY

Except that the seaside's not the seaside.

Dienstag, 17. August 2010

Der Narziss in mir

Zum besseren Verständnis dieses Eintrags vorab eine Information: Ich möchte das aus dem Österreichischen stammende, wirklich schöne Fremdwort "fesch"1) stärker in unseren Sprachgebrauch integrieren und werde es von nun an zwecks eines abwechslungsreicheren Umgangs mit den deutschen Adjektiven immer wieder einfließen lassen. (Zu Eurer Beruhigung sei ebenfalls vorab gesagt, dass ich nicht vorhabe, die Vokabel trotz des ebendies suggerierenden Post-Titels zur Eigenbeschreibung zu verwenden.)

Die ganze Zeit mache ich mir Gedanken darüber, was und wer in dieser Stadt mir nach meiner Rückkehr nach Deutschland wirklich fehlen wird. Dabei ist mir heute aufgefallen, dass ich vor all den offensichtlich zu vermissenden Dingen und Personen noch gar nicht über jene ganz flüchtigen Bekannten nachgedacht habe, denen ich Tag für Tag begegne und zu deren Tagesablauf ich genauso gehöre wie sie zu meinem. Wahrscheinlich werde ich ihnen genauso fehlen wie sie mir.

Da ist der vietnamesische Verkäufer vom Potraviny an meiner Ecke, dem ich immer dann einen Besuch abstatte, wenn mir eine Kleinigkeit fehlt. Fast täglich also, und das seit vier Monaten. Seit etwa zwei Monaten hat unsere Beziehung ein insofern fortgeschritteneres Stadium erreicht, als dass er mir immer winkt, wenn ich den Zebrastreifen gegenüber seines Ladens überquere - selbst wenn ich dann direkt weiter nach Hause laufe.

Dann ist da der netteste Kellner der Welt, der im "Velryba" in der Prager Neustadt bedient und dessen ganze Erscheinung mich immer an das Neustadter Haardt Rock Café erinnert (auch wenn man den Qualitätsvergleich zwischen ihm und den dortigen Bedienungen* besser unterlässt). Insgeheim hoffe ich, dass er auch in Zukunft immer an mich denkt, wenn jemand eine halbvolle Kofola auf dem Tisch stehen lässt, wie es dort sämtliche meiner Besucher taten, die das Gebräu angesichts des niedrigen Preises und seines Kultstatus zwar unbedingt probieren wollten, es aber in keinem Fall austranken. Was den namenlosen Kellner zum außerdem geduldigsten Menschen Prags macht, ist der Umstand, dass er mir bei meinen Bestellungen bisher kein einziges Mal auf Englisch geantwortet hat (obwohl ich gehört habe, dass er es sehr gut spricht) und mir immer alle Zeit der Welt gibt, bis ich den Geldbetrag, den ich inklusive Trinkgeld für mein Essen zahlen möchte, korrekt ausgesprochen habe. Auch unsere Beziehung hat ein neues Level erreicht, seit er mich beim Zählen und Rechnen immer breit angrinst und hin und wieder meine Aussprache korrigiert (was meistens dann der Fall ist, wenn die Ziffer Vier in den Beträgen auftaucht). Ich werde ihn sehr vermissen.

Nicht zuletzt ist da eben auch dieser - aufgepasst - fesche junge Mann, dessen Arbeits- und mein "Schulweg" sich allmorgendlich kreuzen. Dass wir uns mittlerweile grüßen, wenn wir aneinander vorbeilaufen, erinnert mich immer an die Fahrstuhlsituationen aus amerikanischen Sitcoms. Davon abgesehen sind wir einander schon so bekannt, dass ich seine Montagskrawatte erkenne.

Die tiefste Beziehung habe ich jedoch zu einem Mann im Café Louvre. Sein Antlitz hängt im Bilderrahmen ganz hinten links auf der Wandseite des großen Saals und ist Motiv einer der lustigsten Fotografien, die ich kenne. Schon in meiner ersten Woche in Prag habe ich mir vorgenommen, so gut Tschechisch zu lernen, dass ich einen der Angestellten fragen kann, wer der Mann auf dem Bild ist und ob die Fotografie irgendwie zu erwerben ist. Es ist an der Zeit, diesen Vorsatz umzusetzen.
* außer Eva

Literaturangaben

1)http://de.wiktionary.org/wiki/fesch

Freitag, 13. August 2010

Abschied

Alleinsein ist eine gefährliche Sache; man gewöhnt sich so schnell daran. Weil ich zwar nicht gern einsam bin, es aber mag, mit meinen Gedanken allein zu sein, bin ich heute Abend nur mit mir selbst und meinem i-Pod durch Vinohrady spaziert. Zu Yann Tiersen und Tracy Chapman philosophierte ich also vor mich hin* und erlebte dabei einen dieser seltenen Augenblicke vollendeter geistiger Klarheit. Leider sind diese Augenblicke zu prägnant, um sie anschließend wiedergeben zu können. Sie sind jedenfalls voller Erkenntnisse, zum Beispiel derjenigen, dass es gar nicht so gut ist, sich selbst gegenüber allzu ehrlich zu sein. Denn auch dieser Zustand ist einer, an den man sich gewöhnt, und die Emotionalität, die daraus erwächst, ist alles andere als produktiv, auch wenn man sich das - vor allem im künstlerischen Sinne - gern einbildet.

Jetzt lasse ich mir von Sebastian Madsen vorsingen, dass das Leben nunmal grausam und schön ist und fühle mich, als hätte ich für den Liedtext Modell gestanden. Das passiert jetzt zum zweiten Mal. Vielleicht sollte ich mich der Indie-Szene mal als Muse zur Verfügung stellen. (Wahrscheinlich habt ihr einen größeren Nutzen, wenn ihr euch das Lied anhört anstatt meinen Eintrag zu lesen.) Mein Problem besteht eben gerade im Festhalten des Augenblicks. Das kann man eigentlich nicht, wie Sebastian Madsen schon so scharfsinnig erkannt hat, vor allem nicht mit einer Kamera. Mein ferneres Problem ist zudem, dass ich nicht nur den einen einzigen Augenblick einfangen will. Weil mein Abschied aus Prag so rasant näher rückt, bin ich regelrecht darauf erpicht, mir meinen Aufenthalt zu inszenieren.

Seit ich vor zwei Wochen den Havlíčkovy sady entdeckt habe, versuche ich krampfhaft, diesen Park zum Ende meiner Prag-Zeit noch zu meinem Lieblingsort zu machen, indem ich so oft es geht hingehe. Es ist wunderschön dort und ich kann mich nicht sattsehen an den Weinbergen, der Villa Gröbe und dem beruhigenden Geäst über den Wiesen und Bänken. Die Wahrheit ist natürlich, dass das Geäst mich keineswegs beruhigt. Ich sitze da, lese, schaue immer wieder hoch, um zu denken: "Es ist so schön, präg dir den Anblick ein!", weil ich weiß, dass man die Male, die ich in nächster Zeit hier verbringen werde, abzählen kann. Wenn ich zurück in Deutschland also auf die Frage, welcher mein Lieblingsplatz in Prag gewesen ist, mit dem Havlíčkovy sady antworte, werde ich in Wirklichkeit denken: "gewesen wäre! Wär ich doch nur länger dageblieben!"


Ich frage mich hier immer öfter, wie ich es in Urlauben eigentlich schaffe, mich meiner Umgebung einfach so hinzugeben, in dem Wissen, dass ich sie bald wieder verlassen muss. Vielleicht ist meine Einstellung bei kurzen Aufenthalten einfach eine grundsätzlich hingebende, wie wenn man im Flugzeug sitzt und sich denkt: "Entspann dich, du kannst jetzt eh nichts ändern." In Prag ist mir das leider in den vergangenen Wochen nicht mehr gelungen.


In letzter Zeit bin ich - was angesichts meines Noch-Wohnorts nun wirklich kein Zufall ist - immer wieder über eines der wahrscheinlich bekanntesten Zitate Franz Kafkas gestolpert. "Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen." Mir kommt es im Moment so vor, als wäre ich an diesem Punkt gerade angekommen und eine erzwungene Rückkehr einfach unnatürlich.

Neuerdings sind
meine Einträge viel zu Zitate-lastig. Trotzdem möchte ich dasjenige veröffentlichen, das der liebe T. meiner Situation entsprechend so treffend ausgewählt hat und das ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, als nach wie vor von "Irrungen, Wirrungen" geschädigte Fontane-Hasserin im Original nicht mal kenne.

"[…] und dann kommt Zerstreuung - ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile."

*Merkt euch das für eine potentielle Umbenennung meiner fastallabendlichen Wegstrecke in den Prager Philosophenweg in, sagen wir, 80 Jahren.

Mittwoch, 4. August 2010

Glück

http://www.youtube.com/watch?v=PMK76UPYmEc

Nach einem besonders harten Arbeitstag ist mein Praktikum gestern offiziell zu Ende gegangen. Richtig bewusst geworden ist mir das allerdings erst heute, als ich aus Gewohnheit schier zu meinem zu meinem "alten" Arbeitsplatz zurückgekehrt wäre - und erst auf halber Strecke eine Kehrtwende zurück nach Hause machte.


Drei Monate klingen als tatsächlich vergangene Zeit unfassbar kurz, wenn ich sie der verspürten Intensität meiner Erfahrungen hier gegenüberstelle. Am Ende nahezu jedes meiner nunmehr zahlreichen Praktika habe ich gedacht, dass die Zeit in dem jeweiligen Betrieb zu kurz war, um den fachlichen und menschlichen Mehrwert zu erreichen, den ich mir bei der Bewerbung gewünscht hatte. Bei der Prager Zeitung war das anders. An keinem Schreibtisch (inklusive meines eigenen) habe ich bisher mit so viel Freude gesessen; dazugelernt habe ich wohl auch so viel wie es selbst durch einen doppelt so langen Aufenthalt wohl nicht zu übertreffen gewesen wäre. Und doch fühle ich mich wie herausgerissen aus einem Moment des Angekommenseins. Man sollte niemals mit etwas aufhören (müssen), wenn es gerade am meisten Spaß macht. Denn Erfüllung ist nie absolut, sondern immer steigerbar. Das stelle ich jeden Tag fest, wenn ich aus meiner Haustür trete und den Eindruck habe, meinem gefühlten Zuhause wieder um ein Stückchen näher zu sein. Prag macht das mit einem; es hält wirklich fest, weil es an jeder einzelnen seiner Ecken zwischen Übersichtlichkeit und Überraschungsgehalt schwankt.
Mit der Arbeit ist es ähnlich, und obwohl ich weiß, dass das Ende meines Praktikums nicht das Ende meines journalistischen Daseins ist, frustriert mich die Vorstellung, die Recherche zu Themen aufgeben zu müssen, die mir ans Herz gewachsen sind wie kaum welche zuvor.

Solche sind die schmerzhaften Resultate von uneingeschränkt guten Erlebnissen. Aus der "unerträglichen Leichtigkeit des Seins" ist mir ein Satz besonders in Erinnerung geblieben, an den ich in den vergangenen Tagen häufig denken musste. Er lautet ungefähr: "Wer die Stadt verlassen möchte, in der er lebt, ist nicht glücklich" und bezieht sich ironischerweise auf die Heldin, die sich in Prag so unwohl fühlt, dass sie ihm entfliehen möchte. In meinem Fall lässt sich die Aussage nicht nur in Bezug auf Prag umkehren, vielmehr wird mir zunehmend bewusst, dass die Sentenz auch in die andere Richtung funktioniert. Wer die Stadt, in der er lebt, um keinen Preis verlassen möchte, ist glücklich.

Zum ersten Mal überhaupt habe ich das Glück in seinen (fast) ausnahmslos allen Erscheinungen kennen gelernt. Mit der Menge an dem, was zusammenkommt, das man andernorts vermisst hat - pure Ästhetik, ehrliche Leidenschaft für das, was man tut, Herausforderung auf einer praktischen Ebene, Emotionsgeladenheit und Sensibilität für Dinge, an die man lange nicht mehr gedacht hat - steigt auch die Angst vor deren Verlust.

Ich betrachte es selbst gewissermaßen als Zynismus in meiner eigenen Geschichte, dass ich exakt dieses Problem vor meinem Amerika-Aufenthalt 2006 vorab bis ins Detail analysiert hatte. Vier Jahre danach kann ich mir eingestehen, dass ich dort bis auf wenige Ausnahmen keine unentbehrlichen Begegnungen hatte (dafür umso mehr verzichtbare), keine Sekunde ist seither vergangen, in der ich meinen Rückflug nach Europa als verlustreich betrachtet hätte.
Unter anderen Voraussetzungen bin ich nach Prag gekommen. Ich war voll Vorfreude, aber die wahrheitsgemäßen Gründe für mein Auslandssemester waren eben Ablenkung und Abwechslung.

Ich weiß heute nicht, ob ich "Prag" in vier Jahren als Gewinn oder Verlust bezeichnen werde. Hoffentlich sehe ich es wie Oscars Großmutter in "Extremely Loud and Incredibly Close", die in einem der ganz wenigen geschriebenen Sätze, die mich jemals zum Weinen brachten, sagt: "It's better to lose than never to have had." Um es so zu sehen, braucht man wahrscheinlich mehr Distanz als ich sie jetzt habe - schließlich befinde ich mich eigentlich noch im Zustand des have und nicht des lose.

Was ich wirklich sagen will, kann ich nicht ausdrücken, deshalb bleibt es bei einem verhältnismäßig kurzen Blogeintrag. Eines habe ich hier jedenfalls gelernt. Alles ist von der Geographie abhängig. Selbst das Glück.

Donnerstag, 15. Juli 2010

Von Stacheldraht und nackten Männern


Schon vor längerer Zeit hat mir ein belesener Bekannter empfohlen, in fiktionalen Texten keinesfalls auf Kraftausdrücke und erotisches Vokabular zu verzichten. Große Literaten bedienten sich nämlich zuhauf des Alltagsjargons, der ja nun einmal aus Schimpfwörtern und dumpfen Flüchen bestünde. Die Befreiung von der Prüderie hat mich zwar ein paar Jahre gekostet, mais voilá, c'est mon début viscéral. Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Figuren, die in ihr vorkommen, sind nicht frei erfunden.

Es war heiß am vergangenen Wochenende. Selbst meine im Allgemeinen hitzeresistente Natur hatte beim unbeabsichtigten Spaziergang durch Vršovice, das - völlig frei von Schönheit - im Südosten des Stadtkerns liegt, Selbsterhaltungsprobleme. Zum ersten Mal seit ich hier bin, glaube ich, hat mich für einen kurzen Moment pragmatisches Heimweh eingeholt. Zuhause hätte ich immerhin gewusst, wo man sich erfrischen kann. Wenigstens an Schwimmbädern mangelt es den Umgebungen meiner Wohnsitze wahrlich nicht. Anders verhält es sich in Prag, zumindest für Nicht-Insider: Wer nicht in der Moldau baden gehen will, wird sich wohl oder übel zu dem eigentlich vielversprechenden, da ja als mit großen Schwimmbecken "unter freiem Himmel" angepriesenen Strandbad in besagtem Vršovice begeben müssen. Der Ausflug hatte für mich so lange den Charakter eines Abenteuertrips - immerhin muss man mangels nahegelegener Metrostation mit der von mir wenig benutzten Straßenbahn vorlieb nehmen, um zum Slavia-Bad zu gelangen - bis ich nach getaner Erfrischung feststellte, nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch* von eben dort wegzuwohnen. Dazu aber später mehr.

Lange wusste ich nicht, was die Leute meinten, wenn sie von den plattenverkommenen Prager Randbezirken sprachen. Zwischen den unzähligen Art-Noveau-Bauten tauchen hier durchaus immer mal wieder architektonische Sündhaftigkeiten sozialistisch-romantischer Vorstellungen auf - immerhin bin ich ja in Zizkov durchaus herumgekommen, und in die falschen Straßen Dejvices bin ich auch schon abgebogen. Aber richtige Platten-Wohngegenden waren mir bislang fremd.
Es ist tatsächlich desillusionierend, die Idylle der Innenstadt hinter sich zu lassen und einen Blick nach "außen" zu wagen, wo die Geschichte noch sehr lebendig ist, vielleicht sogar nicht richtig von der Gegenwart zu trennen ist.
Am irritierendsten erschien mir bei diesem Besuch das Phänomen von dem mit den geographischen Faktoren korrellierenden optischen Erscheinungsbild der Bewohner. Zuletzt begegnet ist mir dieses Kuriosum in den USA, wo ich lange versucht habe, die dort offen formulierte Idee von einer Gesellschaft der zwei Klassen, die man anhand physisch-ästhetischer Kriterien bestimmen könne, als Klischee abzutun. Prags Gesellschaft lässt sich für das Auge des amateurhaften Gesellschaftsbeobachters leider genauso zweiteilen.
Der aufmerksame Leser müsste an dieser Stelle meine Überschrift als Köder für die Sensationsgeilen durchschaut haben. Nackte Männer hat es wirklich gegeben. Sie waren aber wirklich nicht schön.

Als Hobbysoziologe kann man wirklich seinen Spaß haben, indem man einen Schwimmbadbesuch in Prag unternimmt. Allein die Schlange (im Tschechischen gibt es ein treffendes, im Deutschen leider nicht existierendes Wort, das sich in Anlehnung an den Zuspruch bei ausnahmsweise eingeführter Mangelware mit "Bananenschlange" übersetzen lässt), die sich an sonnigen Wochenendtagen vor der einzig vorhandenen Kasse bildet und tapfer wartet, ist sehenswert. Hat man den Eintritt nach unbestimmter Zeit gemeistert, wartet der nächste Schock. Ich kann nur das Bild beschreiben, das sich Damen bietet, welche die für sie vorgesehene Umkleide-/Schließfach-/Dusch-/Toiletten-Abteilung passieren müssen, um in die in Kürze im Detail darzustellende Außenanlage zu gelangen. Nackte Frauen, halbnackte Frauen, viel zu wenige bekleidete Frauen - dieser erste Eindruck hinterlässt Spuren. Und für alle, die meinen, aufgrund meiner vermeintlichen Übertreibung die Augen verdrehen zu müssen und das alles nicht so schlimm zu finden, sei betont: Auch die nackten Frauen waren wirklich nicht schön. Mehr Hängebrüste, Zellulitis und Nacktheit gab es natürlich unter freiem Himmel zu betrachten.
Immerhin lenkte die nicht anders als als interessant zu bezeichnende Gestaltung des Schwimmbads samt seines - nennen wir es ganz euphemistisch: Parks vom Anblick von so viel unansehnlicher Haut ab. Zumal jeder, der von Kindesbeinen an die Formel "ins Schwimmbad immer barfuß" verinnerlicht hat, zunächst damit beschäftigt sein wird, sich auf dem Betonpflaster, das sich Liegewiese nennt, nicht die Fersen zu verbrennen.
Ich wiederum wurde relativ abrupt aus diesem (im Übrigen verzweifelten) Versuch gerissen, denn unmittelbar, nachdem ich mich auf den vor Trocken- und Ungepflegtheit schon an ein kurzgeschorenes Maisfeld erinnernden, aber immerhin vorhandenen Rasen gerettet hatte, stand plötzlich ein nackter Mann vor mir. Spätestens seitdem steht auch fest, dass der "Naked Man" bei mir nicht funktionieren würde (außer seine Intention wäre das Auslösen eines Herzinfarkts bei mir).

Die kommenden Ereignisse sind für alle, da mir nahestehenden, Leser dieses Blogs wohl selbsterklärend. Ich hektisch und verlegen auf dem Weg aus dem FKK-Bereich. Mich in Sicherheit wiegend. Voller Zufriedenheit mich rückwärts sinkend ins immer noch ausgedorrene und daher pieksende Gras niederlassend und aus Bequemlichkeit selbst das nervtötende Baby im Kinderwagen der viel zu jungen Mutter am Nachbarfleck ignorierend. Alles, um festzustellen: In diesem Schwimmbad gibt es keinen streng abgegrenzten FKK-Bereich. Ich habe an diesem Tag mehr Penisse gesehen als der Durchschnittsnutzer von Chatroulette. (Schade, dass ich meine Blogeinträge unjournalistisch und daher ohne Zwischenüberschriften gestalte). Die nackte-Brüste-Trefferquote liegt übrigens garantiert auch weit über derjenigen von Chatroulette. Die Qualität des Gezeigten wiederum ist zmiteinander vergleichbar.

Auch im Nachhinein bin ich noch überrascht von meiner fast antineurotischen Nutzung des Pools (die mich im Anschluss allerdings zur wohl längsten Dusche meines Lebens veranlasst hat). Selbst dem Wasser, das aus den Wasserhähnen zum Abspritzen an allen Eingängen des Bads kommt und das man nur zum Fließen bringt, wenn wie im Knast an einer schon sehr abgenutzten Stahlkette zieht, ist mehr Chlor beigefügt als demjenigen in dem gefühlte drei Meter tiefen Becken, in dem gefühlte 300 Menschen ... schwimmen ist das falsche Wort. Sich waschen oder so. Ein bisschen verwundert bin ich zudem darüber, dass die hiesigen Badegäste so ruhigen Gemüts ihre Bahnen durchs Wasser ziehen und sich freiwillig auf den Liegeplätzen den Rücken zerkratzen. Selbst mir war der Anblick von Stacheldraht über dem das Schwimmbad umgebenden Zaun unheimlich - ohne dass ich negative Erfahrungen damit gemacht hätte.

Wirklich erhellend war auch mein Heimweg nicht. Vorm Ausgang der Slavia-Sportplätze kann man in der Ferne schon andeutungsweise die Spitzen des Hilton-Hotels am Neuen Jüdischen Friedhof in Zizkov erkennen, zugegebenermaßen nicht die schönste Gegend Prags. Von dort sind es allerdings nur noch 15 Minuten bis zu meiner Bleibe, die wiederum im ohne Frage hübschesten Wohnviertel der Stadt gelegen ist. Die einzige Auffälligkeit, die vielleicht noch repräsentativer für das soziale Gefälle in Prag ist als die eingangs genannten optischen Divergenzien, bestand in der hohen Anzahl an Swimming Pools in den Gärten der schönen Einfamilienhäuser, die plötzlich wieder dort beginnen, wo Prag 12 in Prag 3 mündet - was ich bislang für das einzige Vinohrady gehalten habe. Offensichtlich hat es noch eine Kehrseite. Und wer auf der einen Seite der Medaille wohnt, der hat es eben nicht nötig, ins öffentliche Schwimmbad zu gehen. Der geht einfach in den eigenen Garten.

*M. und T. gewidmet.

Mittwoch, 30. Juni 2010

Begegnungen I: Hans Magnus Enzensberger

Nun ist Hans Magnus Enzensberger ja nicht irgendwer. Er ist mein Lieblingsessayist, Lieblingslyriker, Lieblingsherausgeber. Mein Idol. Er ist aber auch Teil der verschwindenden deutschen intellektuellen Elite, einer der drei verbliebenen echten Dichter und Denker unseres Landes, die Marke HME. Natürlich habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen Interviewtermin mit ihm zu bekommen. Ein Gespräch mit ihm erschien mir noch wertvoller als eines mit Herta Müller, deren Prag-Besuch ebenfalls angekündigt war.
Ein Journalist, der viel Glück hat, kommt früher oder später in die Situation, einem seiner Vorbilder persönlich gegenübersitzen zu dürfen. Mit diesem Gegenüber hat man sich schon Jahre beschäftigt, man hat unendlich viele Fragen, die man ihm gern stellen möchte und natürlich hat man auch ein Bild im Kopf, das den Unerreichbaren gottesgleich aussehen lässt. Dieses Bild ist auch der Grund, warum der Journalist in den Minuten vor dem tatsächlichen Treffen in Panik ausbricht. Was, wenn man sich einen Charakter ausgemalt hat, der in keinster Weise demjenigen des Interviewten entspricht? Was, wenn man den Gegenbeweis für die eigene Menschenkenntnis erhält? Vor allem aber wird der Journalist feststellen, dass er die vielen Fragen, die er sich über all die Zeit hinweg zurechtgelegt hat, nicht wird stellen können. Zuerst wird er sich darüber natürlich ärgern. Wer für eine Zeitung schreibt, muss sich auch beim Interviewen dem Profil des Blatts anpassen und in erster Linie die Leserschaft bedienen und nicht sich selbst. Dass er sich also an aktuelle Themen und Bezüge zur Stadt, in der er schreibt, halten muss, spielt ihm nicht unbedingt in die Karten. Im nächsten Moment wird dem Journalisten jedoch klar werden, dass er die Fragen, die ihn am brennendsten interessieren, ohnehin nicht stellen kann. Oder hätte ich Herrn Enzensberger fragen können: "Wie tun Sie das bloß?!"?
Freilich nicht. Deshalb war ich schließlich froh, mich in meiner Rolle als Pressevertreterin hinter meiner Person verstecken zu können. Der größte Vorteil des Journalisten ist, dass er sich niemals rechtfertigen muss. Vielmehr war ich in der glücklichen Situation, das von Hans Magnus Enzensberger verlangen zu dürfen. Und mir ebenso im Klaren darüber, dass es kaum jemanden geben dürfte, der sich schwieriger aus der Reserve locken lässt als Enzensberger, der es gewohnt ist, bei den wichtigsten politischen Ereignissen, wirtschaftlichen Krisen und kulturellen Anlässen von der Zeit, dem Spiegel und der Süddeutschen um seine Meinung gebeten zu werden. Denn jemanden, der reflektierter ist als HME gibt es in ganz Deutschland nicht. Ebenso wenig fällt mir jemand ein, der seine differenzierte Meinung auch nur annähernd so präzise formulieren kann. So hätte auch ich gern an diversen Stellen unseres Interviews gefragt: "Herr Enzensberger, wie tun Sie das bloß?!" Jedes Wort ein Treffer, jeder Satz zitierfähig: So sprach ein 80-jähriger Schnelldenker zu mir, dem ich am liebsten einfach beim Sprechen zugesehen hätte anstatt dabei mitzuschreiben und mit einiger Verzögerung auf das Gesagte zu reagieren. Am Ende hielt ich ein druckreifes Interview in den Händen, das als einzigen Redigieraufwand eine rigorose Kürzung benötigte. Mehr als eine Stunde hatte ich mit Enzensberger gesprochen - beziehungsweise er mit mir - und hatte dabei letzten Endes doch die Gelegenheit, auch Fragen von persönlichem Interesse zu stellen. Tatsächlich glaube ich, dass ich auch etwas über den Charakter Enzensberger erfahren durfte. Der ist zwar nicht gottesähnlich, aber dafür im positivsten seiner Sinne menschlich. Auch nach dem Interview, in dem HME mich mit Vornamen ansprach, witzelte und sich von seiner freundlichsten Seite zeigte, habe ich noch unvergleichbar großen Respekt vor ihm.