Mittwoch, 14. April 2010

Prager Politikdebatten


Gestern erlebte ich die interessante Situation, in der Studenten schon vor Mitternacht ernsthaft über Politik distkutieren. Von der ursprünglich gemischten Gruppe blieb ein harter Kern, bestehend aus - einschließlich mir - zwei Deutschen, einem Niederländer und zwei Tschechen. Die Diskussion war entstanden, nachdem wir konsensual die kommunistische Diktatur unter sowjetischem Regime verurteilt und sowie uns auf die Demokratie als einzig akzeptable Staatsform geeinigt hatten. Während für die meisten von uns der Begriff des Sozialimus zumindest dahingehend wertfrei war, dass er und die Demokratie einander nicht ausschließen, vertrat einer der tschechischen Studenten vehement die Ansicht, nur im Kapitalismus könne die Demokratie verwirklicht werden. Nun ist diese Aussage natürlich aus einer subjektiven Einschätzung gewachsen, die sicherlich nicht die Haltung der Mehrheit der tschechischen Studenten wiederspiegelt. Dennoch beschäftigt mich seither die Begrifflichkeit von "Konservativismus" und "Liberalismus" in Tschechien. Anders als in Deutschland, so scheint es mir, gehören beide Bezeichnungen der politischen Rechten an, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im wertorientierten Sinne. Der derzeitige tschechische Präsident Václav Klaus sieht sich selbst als klassischen Liberalen, erntete aber von seinen Gegnern Empörung darüber, dass er ein Veto gegen den parlamentarischen Versuch, eine Gleichstellung von Homosexuellenpaaren mit heterosexuellen Ehen zu erreichen, einlegte. Für die deutsche Variante der klassischen Liberalen wäre das undenkbar! Im Zusammenhang mit ihren Wertvorstellungen würde man der FDP getrost einen Platz im linken Spektrum der politischen Links-Rechts-Skala einräumen. Im Gespräch mit mehreren Tschechen ist mir mittlerweile aufgefallen, wie sehr wir uns von dem, was wir eben kennen, geistig einschränken lassen - als wäre die Variante in unserem Kopf die einzige, die in Frage kommt. Dass dem so ist, fiel mir auf, nachdem mir in den vergangenen Tagen einige junge Tschechen sagten, sie seien politisch eher rechtsorientiert. Je nach Betonung würde sich bei der gleichen Aussage in Deutschland bei mir der Abwehrmodus bereit machen. In Tschechien hingegen, so ist mir mittlerweile klar geworden, ist "rechts" vielmehr gleichbedeutend mit "anti-kommunistisch" und zwar nicht im amerikanischen oder Adernauerschen Sinne, wie er während des Kalten Krieges vertreten wurde, sondern ganz konkret gegen die Tschechische Kommunistische Partei, die noch immer ordentliche 26 Sitze im Parlament inne hat - mehr als die Christdemokraten und noch viel mehr als die Grünen. Rechts bedeutet demnach weder, dass die jungen Vertreter dieser Richtung radikal wären, noch, dass sie den konservativen Václav Klaus unterstützten, dem immerhin vorgeworfen wird, trotz seiner bekennenden Anhängerschaft zu Ronald Reagan und Margaret Thatcher bei der vergangenen Präsidentschaftswahl einen Deal mit den Kommunisten eingegangen zu sein, der ihm auch die Stimmen der KSČM gesichert haben soll. Viele von ihnen lesen das politische Magazin "Respekt", das sie ebenfalls rechts einordnen, das aber - meinem bisherigen Eindruck nach - eines der Vorzeigejournale des investigativen Journalismus ist. Unter anderen Umständen würde man "Respekt", das mit der Aufdeckung von Korruptionsfällen, genauso aber mit Reportagen über Massaker an der Roma-Minderheit und der Vertreibung von Sudetendeutschen in der Vergangenheit für Aufsehen gesorgt hat, mit dem "Spiegel" vergleichen. Nur bedeutet investigativer Journalismus in der postkommunistischen tschechischen Republik eben etwas anderes: Er ist möglich, wie er es jahrzehntelang unter der kommunistischen Diktatur nicht war. Dass die jungen Leser des "Respekt" die Pressefreiheit so hochschätzen und ihnen so viel daran liegt, sie aufrecht zu erhalten, ist einerseits überaus erfreulich. Ich habe in Deutschland - abgesehen von wenigen ernsthaften Gesprächen unter Politologen - nie erlebt, dass Studenten sich fernab von Stammtischniveau in der Kneipe so leidenschaftlich und souverän über Politik unterhalten hätten. Der politischen Kultur innerhalb der jungen Generationen kann das nur zuträglich sein. Oder? Der Nachteil dieser passionierten Vertretung der Pressefreiheit besteht darin, dass sie die Wirkung eines Privilegs erhält und nicht die einer Selbstverständlichkeit, die sie eigentlich sein sollte. Man sollte die ehemals kommunistischen Diktaturen Ost- und Mitteleuropas eines weiteren Vorwurfs anklagen: Ihretwegen hegt eine ganze Generation junger Tschechen nicht nur ein misstrauisches Verhältnis gegenüber den Politikern (das wäre normal und gut). Wirklich traurig ist, dass diese Generation auch eine Skepsis gegenüber dem Fortbestand der Demokratie verspürt.

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