Freitag, 23. April 2010

Prager Melodien

Prag ist ein Ort für Musikliebhaber. Wer hier durch die Altstadt flaniert, dem klingen pausenlos Melodien in den Ohren - wenn nicht von den Instrumenten, auf denen die zahlreichen Straßenmusikanten spielen, dann zumindest von den romantischen Sinfonien oder dem entspanntem Dixieland, die man beim Anblick von mittelalterlichen Bauten einerseits und jugendstilistisch verzierten Fassaden andererseits halbautomatisch assoziiert.
Musik wirkt auch als ein Mittel der Begegnung. Die Bourbon Street Ramblers, die - mal auf der Karlsbrücke, mal auf dem Altstädter Ring - Straßenswing auf hohem Niveau machen, begeistern Touristen und die Einwohner Prags gleichermaßen.
Generationen spielen keine Rolle mehr, wenn auf den Bühnen der großen Festivals die besten Künstler ihres Genres auftreten: Im Mai und Juni gastieren rund um Rudolfinum und Smetana-Saal große Dirigenten, Orchester und Symphonien beim Prager Frühling. Unter den Zuschauern wird man dort Konstellationen antreffen, die nur auf besonderen Anlässen üblich sind: Töchter begleiten ihre Väter dorthin, Angestellte leisten ihren Chefs Gesellschaft und Freunde aus Vinohrady treffen sich dort mit ihren Bekannten aus Smichov. Kurzum: Musik ist das Verbindungsglied der Bürger Prags.
Vergangene Woche stellte mir ein tschechischer Student eine Frage, die mich zum Nachdenken brachte: "Wer ist der deutsche Bob Dylan?", wollte er wissen, und konkretisierte: "Gibt es einen Sänger, den jeder in Deutschland mag?" Nach einem Augenblick, in dem ich nach einer ernsthaften Antwort auf diese Frage suchte, hakte er nach: "Vielleicht Hansi Hinterseer?" Selbstverständlich brach ich auf Anhieb in einen Zustand aus, der irgendwo zwischen Lachtränen und Empörung lag. Erst als ich merkte, dass es meinem Gesprächsparner mit der letzten Frage ernst gewesen war, gesellte sich zu meinem Amüsement der ehrliche Schock. Was für ein Bild haben unsere Nachbarn bloß von uns?! Ich bin versucht, Herrn Hinterseer persönlich die Schuld an diesem Image zu geben; seine ledigliche Existenz erklärt aber leider noch lange nicht, warum ein gewisser Anteil meiner Landsleute tatsächlich - und das auch noch freiwillig - seinem allzeit fröhlichen Geträller lauscht.
Die Unterhaltung mit dem interessierten tschechischen Studenten jedenfalls hat mich gelehrt: Die Qualität von "Volksmusik" ist eine Frage der Definition. Wenn ein Prager von seinem Lieblingsvolkssänger erzählt, begeht man einen Fehler, wenn man ihn wegen dieser Geschmacksbekundung in eine Schublade steckt, in die es von all unseren Bekannten bislang vielleicht allenfalls unsere Großeltern geschafft haben. "Volksmusik" ist in Tschechien das, was man in Deutschland als guten Folk bezeichnen würde. Und es gibt hier populäre Vertreter dieses Genres, die altersgrenzenüberschreitend als Könner ihres Fachs anerkannt sind. Würde man einen Tschechen nach dem "Bob Dylan" seines Landes fragen, ihm würden vermutlich zwei Namen einfallen: Da ist Jaromír Nohavica, der sich auch über die Republik hinaus einen Namen gemacht hat und der musikalisch wohl Leonard Cohen noch näher steht als Bob Dylan. Zum anderen würde wahrscheinlich der Name Karel Plíhals fallen, der - wie die Gäste im Musikantenstadl - in der Regel vor sitzendem Publikum auftritt, mit dem Unterschied, dass er eine Gitarre zu betätigen weiß und außerdem eine schöne Stimme hat, mit der er über Weltbewegenderes singt als darüber, wie schön der Tag mit Hansi gewesen ist.
Mir ist immer noch kein Künstler eingefallen, der in Hinsicht auf seine Beliebtheitswerte oder wenigstens auf seinen musikalischen Einfluss in Deutschland mit Bob Dylan verglichen werden könnte (erhellende Vorschläge nehme ich entgegen).
Allzu gern würde ich mich darin wähnen, meine Nationalität wenigstens mit den größten Komponisten der Vergangenheit zu teilen. Dann aber stelle ich fest, dass selbst jene - man denke nur an Beethoven oder Händel - die Flucht aus ihrem Vaterland ergriffen haben, um in anderen Gefilden nach künstlerischer Inspiration zu suchen. Mit Musik kann man als Deutsche in Tschechien keinen Staat gewinnen *). Dafür darf man hier im Alltag eine Auswahl an musikalischer Qualität genießen, von der man zu Hause nur träumen kann.

*) Ich bitte um Verzeihung für diesen Witz.

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