Donnerstag, 25. März 2010

Zwischen den Zeilen.

"Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht." (William Shakespeare)

Wenn ich mich früher durch das Verzeichnis der ZEIT-Redakteure blätterte, die in ihrer Kurzvita erklärten, welche persönliche Bedeutung DIE ZEIT von jeher für sie hatte, verspürte ich vor allem Neid. - Neid auf das bürgerliche Elternhaus, in dem man beheimatet gewesen sein muss, um das ZEIT-Magazin aus dem Briefkasten zu stehlen, bevor die Eltern den kompletten Stapel an Papier unter sich verteilen konnten -Neid darauf, die Inhalte als dem Stil überlegenes Qualitätsmerkmal erkennen zu können - Neid auf den frühen Zugang zu investigativ recherchierten Informationen sowie deren Verständnis.
Vergangene Woche veröffentlichte DIE ZEIT ein umfassendes Porträt des unzugänglichen Barons zu Guttenberg, dessen Autorin eine interessante Feststellung machte. Wie viel Genugtuung am persönlichen Erfolg, fragte sie, könne ein deutscher Aristokrat überhaupt empfinden, wo ihm doch seine Herkunft den Weg zur steilen Karriere bereits geebnet habe. Guttenberg könne doch allenfalls stolz darauf sein, es genauso weit geschafft zu haben wie sein Großvater.
Es amüsiert mich, die ich klassendefinitorisch nicht als Angehörige des Bürgertums gelte, in solchen Situationen, dass gerade seine Repräsentanten eine so kluge gesellschaftspsychologische Beobachtungsgabe aufweisen, wenn es um die Gefangenschaft der Angehörigen anderer gesellschaftlicher Milieus in ihren Verhältnissen geht: Den Aristokraten bleiben infolge dieser Argumentationslogik Mobilitätschancen naturgemäß versagt, weil der gesellschaftliche Aufzug nun mal nicht höher fährt - bemitleidenswerterweise - und den Vertretern der unteren Schichten ist es neben sozialtraditionellen Gründen schon deshalb kaum möglich, einen Ausstieg aus ihrer Klasse zu schaffen, weil ihr familiärer Hintergrund das nicht vorsieht. Die Exklusivität ihres eigenen Gesellschaftskreises scheint der so genannten Mittelschicht gar nicht aufzufallen. Sie bemüht sich so sehr, Auf- und Abstiegsstatistiken der Anderen zu analysieren, dass sie für sich selbst nur noch Mitleid übrig hat. Selbstverständlich ist es für die Bürgerlichen schwer, die Klasse zu wechseln: In die untere Richtung wäre das regelrecht eine klassische Katastrophe; nach oben ist der Sprung quasi unmöglich, es sei denn man erheiratet sich einen Titel.
Einen Baron zu bemitleiden, weil er es gar nicht schaffen kann, es weiter zu bringen als seine Vorfahren, ist zwar ehrenwert, schlägt doch aber fehl für jemanden, der sich in der Hierarchie der Berufe wahrscheinlich genauso unweit von der Position seiner Eltern entfernt hat wie ein Adeliger das könnte.
Es gibt keinen Grund, sich für eine traditionsreiche Familie zu schämen. Unternehmerkinder tun es, wenn sie einen Familienbetrieb in der fünften Generation fortführen; Menschen mit Migrationshintergrund, wenn sie ihre Kinder zweisprachig erziehen und jeder, der sich auch im Erwachsenenleben noch mit Frohsinn an das ZEIT-Abo der Eltern erinnert, tut es auch. Den Stolz eines Adeligen auf seinen Stammbaum ins Lächerliche zu ziehen, darauf scheint so mancher Journalist - und davon abgesehen auch Stammtischredner, Politiker oder sonstiger Besserwisser - dennoch ganz versessen zu sein. Das Problem daran sehe ich nicht in der psychologischen Theoretisierung des Charakters zu Guttenberg, die aus einer so gehaltenen Porträtierung spricht, sondern in der Unterschätzung des Individuellen, zu dem - so sollte man meinen - auch Aristokraten fähig sein dürften. Wer glaubt, nur weil er in die "Fußstapfen" seiner Großväter tritt, nehme er seine Funktion weniger ernst als jemand, dessen Großvater Schreiner statt Politiker war, spricht demjenigen nicht nur das Vermögen ab, sich von seiner Familie zu emanzipieren, sondern würde in der Schlussfolgerung auch bedeuten, dass ein Schreinerenkel weniger stolz auf seinen Familienhintergrund sein müsste als ein bayerischer Großgrundbesitzer. Wenn so sehr auf Herkunftsfaktoren gepocht wird wie bei Karl-Theodor zu Guttenberg, geht das Analysebild der eigentlichen Persönlichkeit verloren. Jeder Bürgerliche würde sich über eine solche Porträtierung seiner selbst ärgern.