Donnerstag, 15. Juli 2010

Von Stacheldraht und nackten Männern


Schon vor längerer Zeit hat mir ein belesener Bekannter empfohlen, in fiktionalen Texten keinesfalls auf Kraftausdrücke und erotisches Vokabular zu verzichten. Große Literaten bedienten sich nämlich zuhauf des Alltagsjargons, der ja nun einmal aus Schimpfwörtern und dumpfen Flüchen bestünde. Die Befreiung von der Prüderie hat mich zwar ein paar Jahre gekostet, mais voilá, c'est mon début viscéral. Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Figuren, die in ihr vorkommen, sind nicht frei erfunden.

Es war heiß am vergangenen Wochenende. Selbst meine im Allgemeinen hitzeresistente Natur hatte beim unbeabsichtigten Spaziergang durch Vršovice, das - völlig frei von Schönheit - im Südosten des Stadtkerns liegt, Selbsterhaltungsprobleme. Zum ersten Mal seit ich hier bin, glaube ich, hat mich für einen kurzen Moment pragmatisches Heimweh eingeholt. Zuhause hätte ich immerhin gewusst, wo man sich erfrischen kann. Wenigstens an Schwimmbädern mangelt es den Umgebungen meiner Wohnsitze wahrlich nicht. Anders verhält es sich in Prag, zumindest für Nicht-Insider: Wer nicht in der Moldau baden gehen will, wird sich wohl oder übel zu dem eigentlich vielversprechenden, da ja als mit großen Schwimmbecken "unter freiem Himmel" angepriesenen Strandbad in besagtem Vršovice begeben müssen. Der Ausflug hatte für mich so lange den Charakter eines Abenteuertrips - immerhin muss man mangels nahegelegener Metrostation mit der von mir wenig benutzten Straßenbahn vorlieb nehmen, um zum Slavia-Bad zu gelangen - bis ich nach getaner Erfrischung feststellte, nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch* von eben dort wegzuwohnen. Dazu aber später mehr.

Lange wusste ich nicht, was die Leute meinten, wenn sie von den plattenverkommenen Prager Randbezirken sprachen. Zwischen den unzähligen Art-Noveau-Bauten tauchen hier durchaus immer mal wieder architektonische Sündhaftigkeiten sozialistisch-romantischer Vorstellungen auf - immerhin bin ich ja in Zizkov durchaus herumgekommen, und in die falschen Straßen Dejvices bin ich auch schon abgebogen. Aber richtige Platten-Wohngegenden waren mir bislang fremd.
Es ist tatsächlich desillusionierend, die Idylle der Innenstadt hinter sich zu lassen und einen Blick nach "außen" zu wagen, wo die Geschichte noch sehr lebendig ist, vielleicht sogar nicht richtig von der Gegenwart zu trennen ist.
Am irritierendsten erschien mir bei diesem Besuch das Phänomen von dem mit den geographischen Faktoren korrellierenden optischen Erscheinungsbild der Bewohner. Zuletzt begegnet ist mir dieses Kuriosum in den USA, wo ich lange versucht habe, die dort offen formulierte Idee von einer Gesellschaft der zwei Klassen, die man anhand physisch-ästhetischer Kriterien bestimmen könne, als Klischee abzutun. Prags Gesellschaft lässt sich für das Auge des amateurhaften Gesellschaftsbeobachters leider genauso zweiteilen.
Der aufmerksame Leser müsste an dieser Stelle meine Überschrift als Köder für die Sensationsgeilen durchschaut haben. Nackte Männer hat es wirklich gegeben. Sie waren aber wirklich nicht schön.

Als Hobbysoziologe kann man wirklich seinen Spaß haben, indem man einen Schwimmbadbesuch in Prag unternimmt. Allein die Schlange (im Tschechischen gibt es ein treffendes, im Deutschen leider nicht existierendes Wort, das sich in Anlehnung an den Zuspruch bei ausnahmsweise eingeführter Mangelware mit "Bananenschlange" übersetzen lässt), die sich an sonnigen Wochenendtagen vor der einzig vorhandenen Kasse bildet und tapfer wartet, ist sehenswert. Hat man den Eintritt nach unbestimmter Zeit gemeistert, wartet der nächste Schock. Ich kann nur das Bild beschreiben, das sich Damen bietet, welche die für sie vorgesehene Umkleide-/Schließfach-/Dusch-/Toiletten-Abteilung passieren müssen, um in die in Kürze im Detail darzustellende Außenanlage zu gelangen. Nackte Frauen, halbnackte Frauen, viel zu wenige bekleidete Frauen - dieser erste Eindruck hinterlässt Spuren. Und für alle, die meinen, aufgrund meiner vermeintlichen Übertreibung die Augen verdrehen zu müssen und das alles nicht so schlimm zu finden, sei betont: Auch die nackten Frauen waren wirklich nicht schön. Mehr Hängebrüste, Zellulitis und Nacktheit gab es natürlich unter freiem Himmel zu betrachten.
Immerhin lenkte die nicht anders als als interessant zu bezeichnende Gestaltung des Schwimmbads samt seines - nennen wir es ganz euphemistisch: Parks vom Anblick von so viel unansehnlicher Haut ab. Zumal jeder, der von Kindesbeinen an die Formel "ins Schwimmbad immer barfuß" verinnerlicht hat, zunächst damit beschäftigt sein wird, sich auf dem Betonpflaster, das sich Liegewiese nennt, nicht die Fersen zu verbrennen.
Ich wiederum wurde relativ abrupt aus diesem (im Übrigen verzweifelten) Versuch gerissen, denn unmittelbar, nachdem ich mich auf den vor Trocken- und Ungepflegtheit schon an ein kurzgeschorenes Maisfeld erinnernden, aber immerhin vorhandenen Rasen gerettet hatte, stand plötzlich ein nackter Mann vor mir. Spätestens seitdem steht auch fest, dass der "Naked Man" bei mir nicht funktionieren würde (außer seine Intention wäre das Auslösen eines Herzinfarkts bei mir).

Die kommenden Ereignisse sind für alle, da mir nahestehenden, Leser dieses Blogs wohl selbsterklärend. Ich hektisch und verlegen auf dem Weg aus dem FKK-Bereich. Mich in Sicherheit wiegend. Voller Zufriedenheit mich rückwärts sinkend ins immer noch ausgedorrene und daher pieksende Gras niederlassend und aus Bequemlichkeit selbst das nervtötende Baby im Kinderwagen der viel zu jungen Mutter am Nachbarfleck ignorierend. Alles, um festzustellen: In diesem Schwimmbad gibt es keinen streng abgegrenzten FKK-Bereich. Ich habe an diesem Tag mehr Penisse gesehen als der Durchschnittsnutzer von Chatroulette. (Schade, dass ich meine Blogeinträge unjournalistisch und daher ohne Zwischenüberschriften gestalte). Die nackte-Brüste-Trefferquote liegt übrigens garantiert auch weit über derjenigen von Chatroulette. Die Qualität des Gezeigten wiederum ist zmiteinander vergleichbar.

Auch im Nachhinein bin ich noch überrascht von meiner fast antineurotischen Nutzung des Pools (die mich im Anschluss allerdings zur wohl längsten Dusche meines Lebens veranlasst hat). Selbst dem Wasser, das aus den Wasserhähnen zum Abspritzen an allen Eingängen des Bads kommt und das man nur zum Fließen bringt, wenn wie im Knast an einer schon sehr abgenutzten Stahlkette zieht, ist mehr Chlor beigefügt als demjenigen in dem gefühlte drei Meter tiefen Becken, in dem gefühlte 300 Menschen ... schwimmen ist das falsche Wort. Sich waschen oder so. Ein bisschen verwundert bin ich zudem darüber, dass die hiesigen Badegäste so ruhigen Gemüts ihre Bahnen durchs Wasser ziehen und sich freiwillig auf den Liegeplätzen den Rücken zerkratzen. Selbst mir war der Anblick von Stacheldraht über dem das Schwimmbad umgebenden Zaun unheimlich - ohne dass ich negative Erfahrungen damit gemacht hätte.

Wirklich erhellend war auch mein Heimweg nicht. Vorm Ausgang der Slavia-Sportplätze kann man in der Ferne schon andeutungsweise die Spitzen des Hilton-Hotels am Neuen Jüdischen Friedhof in Zizkov erkennen, zugegebenermaßen nicht die schönste Gegend Prags. Von dort sind es allerdings nur noch 15 Minuten bis zu meiner Bleibe, die wiederum im ohne Frage hübschesten Wohnviertel der Stadt gelegen ist. Die einzige Auffälligkeit, die vielleicht noch repräsentativer für das soziale Gefälle in Prag ist als die eingangs genannten optischen Divergenzien, bestand in der hohen Anzahl an Swimming Pools in den Gärten der schönen Einfamilienhäuser, die plötzlich wieder dort beginnen, wo Prag 12 in Prag 3 mündet - was ich bislang für das einzige Vinohrady gehalten habe. Offensichtlich hat es noch eine Kehrseite. Und wer auf der einen Seite der Medaille wohnt, der hat es eben nicht nötig, ins öffentliche Schwimmbad zu gehen. Der geht einfach in den eigenen Garten.

*M. und T. gewidmet.

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