Donnerstag, 10. Februar 2011

Nostalgie

Neulich habe ich von Erich Kästner geträumt. In meinem Traum saß Erich Kästner auf dem Gipfel eines sehr spitzen Eisbergs und tippte auf einer Laptop-Tastatur. Vom Laptop abgesehen habe ich mir Erich Kästner als Kind immer genauso vorgestellt; Wind und Wetter trotzend, fleißig und einsam schreibend mitten im Gebirge. Das Bild entstand, nachdem ich das Vorwort des "fliegenden Klassenzimmers" gelesen hatte, in dem Kästner beschreibt, wie es zu der Geschichte kam. Kästners Mutter soll ihn mitten im Sommer gebeten haben, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, woraufhin sich der junge Schriftsteller entschloss, auf die Zugspitze zu fahren, um sich in winterliche Stimmung zu versetzen.

Die Geschichte um das "fliegende Klassenzimmer" war die erste, die mir bewusst machte, dass Realität und Fiktion viel näher beisammen liegen als man meint, und dass Literatur nur authentisch ist, wenn ein Teil von ihr auch selbsterlebt ist.
Ich schreibe zugegebenerweise keine Literatur. Trotzdem geht es mir gerade ähnlich wie Erich Kästner. Über einen Ort zu schreiben, an dem man sich nicht befindet, ist eigentlich unmöglich.*

Ich war diese Woche in Prag, vier Tage. Alles war so unverändert und doch so anders. Es fühlt sich komisch an, provisorisch in einer Stadt zu sein, die einem eigentlich wie die eigene Heimat vorkommt. Und von allen als Besucher anstatt als Bewohner behandelt zu werden.
Überhaupt ist ja die Sehnsucht nach geographisch entlegenen Orten schon skurril. Ich weiß genau, wie der Námestí Jirího z Podebrad aussieht, ich kann ihn mir in diesem Moment im Detail vorstellen. Ich muss nicht dort sein, um exakt zu wissen, welche Farben die Häuser am Straßenrand haben, in welcher Entfernung der Fernsehturm über der Hausnummer Neun hervorlugt und wie viele Parkbänke zwischen der Kirche und dem Eingang zur Metrostation stehen.
Trotzdem war meine Ankunft dort am Sonntag über alle Maßen beflügelnd.

Es war halt wie überall, wo man schöne Erfahrungen gemacht hat. Man läuft einen Weg entlang und erinnert sich an vergangene Zeiten und an das, was man mit diesem Weg verbindet. So detailreich, wie die Erinnerung an diesem Ort wiederkehrt, schafft die Vorstellungskraft die Erinnerung dann doch nicht.

Nach vier Tagen habe ich Prag mit den ambivalenten Gefühlen, die ich (allerdings aus anderen Gründen) schon bei der Ankunft hatte, verlassen. Nur war diesmal die Angst größer, nach Prag nur noch zum Erinnern zu kommen, nicht mehr zum Erleben.

*Ich bin ja nicht Karl May.